Thomas Ehling Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht

Beweiswert einer verlesenen schriftlichen Einlassung im Prozess

 

  1. Lässt sich ein Angeklagter in der Hauptverhandlung im Wege einer für ihn von seinem Verteidiger verlesenen Verteidigererklärung ein, ohne kritische Nachfragen des Gerichts zuzulassen, so ist das Tatgericht nicht nur befugt, sondern sogar gehalten, dieser Erklärung im Rahmen der Beweiswürdigung nur einen erheblich verminderten Beweiswert zuzuerkennen. Anders als bei einer persönlichen Vernehmung des Angeklagten kann aus ihr kein unmittelbarer Eindruck des Aussageverhaltens gewonnen werden, wie es dagegen beim gesetzlichen Leitbild der Einlassung der Fall ist, in der sich der Angeklagte persönlich und in freier Rede äußert und Fragen beantwortet.

   

  1. Die Grundsätze zur Zulässigkeit der Würdigung des Teilschweigens zum Nachteil des Angeklagten gelten auch dann, wenn sich der Angeklagte in Form einer Verteidigererklärung zur Sache einlässt, die er sich zu eigen macht, und er Nachfragen entweder generell nicht zulässt oder nicht vollumfänglich beantwortet.

    

In der Praxis der Strafverteidigung gilt bekanntlich die Frage, welche Empfehlung die Verteidigung dem Mandanten [1] zur Einlassung in der Hauptverhandlung erteilt, zu den schwierigsten. Dies gilt nicht nur für das „Ob“ (Schweigen oder Einlassung), sondern auch für das „Wie“ einer beabsichtigten Einlassung. Neben der gesetzlich vorgesehenen Vernehmung durch das Gericht [2] gibt es in der Praxis die Möglichkeit, eine in Schriftform gefasste Erklärung des Angeklagten zum Tatvorwurf zu verlesen, entweder durch ihn selbst oder durch die Verteidigung. Nimmt die Verteidigung die Verlesung vor, hat der Angeklagte zu Protokoll zu bestätigen, dass es sich um seine Erklärung handelt.

  

Diese Form der Einlassung hat den Vorteil, dass der Mandant nicht Gefahr läuft, in freier Rede versehentlich Äußerungen zu tätigen, die ihm bei der Beweiswürdigung zum Nachteil gereichen können. Ist die Einlassung mit der Erklärung verbunden, keine Fragen des Gerichts zu beantworten, läuft man auch nicht Gefahr, dass das Verteidigungsvorbringen durch kritische Nachfragen widerlegt wird. Von dieser Form der Einlassung wird im Gerichtsalltag oft Gebrauch gemacht. Das Gericht hört sich in aller Regel die Einlassung an, gibt sie dann in den Urteilsgründen wieder und befasst sich mit ihr im Rahmen der Beweiswürdigung. Dabei kam es bisher sehr selten vor, dass das Gericht der Einlassung wegen der gewählten Form nur einen geringen Beweiswert bescheinigt.

   

Ebenso wenig wurde bisher ein weiterer Umstand in der Praxis der Strafgerichte thematisiert. Gemeint ist das sogenannte „Teilschweigen“. Stellt sich ein Angeklagter in der Hauptverhandlung der Vernehmung durch das Gericht, beantwortet dabei aber einzelne Fragen ausdrücklich nicht, so kann ein solches Teilschweigen – anders als das vollständige Schweigen zum Tatvorwurf – in der Beweiswürdigung zum Nachteil des Angeklagten gewertet werden. Hier fragt sich, ob nicht eine verlesene Einlassung, die sich möglicherweise nicht zwingend zu allen Tat- oder Begleitumständen verhält, die das Gericht interessieren dürften, als Teilschweigen gewertet werden kann, wenn Fragen des Gerichts nicht zugelassen werden. Der dritte Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat sich in der genannten Entscheidung hierzu positioniert. Er hatte sich mit dem folgenden vom Tatgericht festgestellten Sachverhalt zu befassen:

   

Der Angeklagte traf sich abends nach vorheriger Verabredung mit dem späteren Geschädigten und zwei weiteren Personen zur Aussprache wegen einer Streitfrage in einem Park. Dort stach er aus nicht feststellbaren Gründen mit einem Messer seinem Kontrahenten in den linken Oberschenkel. Der Messerstich eröffnete eine Arterie, so dass das Opfer am Tatort aufgrund des hohen Blutverlustes verstarb. Der Angeklagte handelte mit Verletzungsabsicht, indes nicht mit Tötungsvorsatz. Das Versterben des Tatopfers aufgrund der erlittenen Stichverletzung war für ihn vorhersehbar.

   

Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung durch eine Erklärung seines Verteidigers, die er sich ausdrücklich zu eigen gemacht hat, zur Sache eingelassen. Nachfragen hat er nicht zugelassen. Mit der Verteidigererklärung hat der Angeklagte eingeräumt, dem Tatopfer die tödliche Verletzung zugefügt zu haben. Er hat jedoch geltend gemacht, der Geschädigte sei ohne für ihn erkennbaren Anlass auf ihn zugelaufen und habe ihn geschlagen. Er habe ein Messer gezückt, um seinen Kontrahenten von weiteren Angriffen abzuhalten. Dieser habe ihn gleichwohl erneut attackiert, woraufhin sie beide zu Boden gegangen seien.

  

In diesem Zusammenhang müsse der Geschädigte in das Messer gefallen sein.

Das Tatgericht ist dieser Einlassung nicht gefolgt, soweit der Angeklagte mit ihr eine Notwehrlage sowie eine ungewollte Verletzung des Opfers behauptet hat. So hat ein rechtsmedizinisches Sachverständigengutachten ergeben, dass das Verletzungsbild nicht zu einem Sturz des Opfers in das Messer passt, sondern allein mit einem kraftvollen und gezielten Stich erklärbar ist. Ferner hat das Landgericht der Einlassung des Angeklagten auch deshalb keinen Glauben geschenkt, weil sie zum einen in Form einer Verteidigererklärung ohne Möglichkeit der Überprüfung durch kritische Nachfragen vorgebracht worden ist und zum anderen ihrem Inhalt nach ein Teilschweigen des Angeklagten darstellt, aus dem für diesen nachteilige Schlüsse gezogen werden dürfen. Denn die Verteidigererklärung hat sich zu wesentlichen Aspekten des Tatgeschehens, zu denen eine Darlegung naheliegend war, nicht verhalten. Sie hat keine Angaben zum Gegenstand des Streits zwischen dem Angeklagten und dem Tatopfer sowie zum Grund ihrer abendlichen Verabredung enthalten.

  

Dies deutet darauf hin, dass das Tatvorgeschehen gegen eine Not- wehrsituation spricht, denn ansonsten hätte der Angeklagte zu diesem Tatvorgeschehen erwartbar Angaben gemacht. Ferner hat die Verteidigererklärung nicht Stellung dazu bezogen, inwieweit die beiden weiteren Personen, bei denen es sich ausweislich einer sichergestellten WhatsApp-Kommunikation um unmittelbare Tatzeugen gehandelt hat, in das Geschehen involviert waren. Da diese ihrerseits eine Anwesenheit bei der Tat wahrheitswidrig bestritten haben, deutet dies auf eine Absprache zwischen dem Angeklagten und diesen Personen hin, die Zeugen sollen zum Tatgeschehen schweigen. Das wiederum gibt Anlass zu der Annahme, der Angeklagte habe sich nicht in einer Notwehrsituation befunden. Denn hätte die geltend gemachte Notwehrsituation vorgelegen, hätten die beiden weiteren Personen naheliegend zu dieser bekundet.

  

Das Schweigen der Verteidigererklärung zu wesentlichen Teilen des Tatgeschehens spricht mithin gegen ihre Richtigkeit. Das Tatgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.

  

Der mit der Revision gegen dieses Urteil befasste 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hält die Urteilsbegründung des Tatgerichts für fehlerfrei und hat das Rechtsmittel des Angeklagten verworfen. Bei einer Einlassung mittels Verteidigererklärung ohne Möglichkeit kritischer Nachfragen ist das Tatgericht nicht nur befugt, sondern sogar gehalten, im Rahmen seiner Beweiswürdigung zu berücksichtigen, dass dieser von vornherein nur ein erheblich verminderter Beweiswert zukommt, weil es sich um ein - in der Regel im Vorfeld der Angaben schriftlich ausgearbeitetes - situativ nicht hinterfragbares Verteidigungsvorbringen handelt.

  

Solche Einlassungen sind nur sehr eingeschränkt einer Glaubhaftigkeitsprüfung zugänglich. Anders als bei einer mündlich abgegebenen Sachäußerung kann aus ihnen kein unmittelbarer Eindruck des Aussageverhaltens gewonnen werden. Der Beweiswert eines solchen Einlassungssurrogats bleibt substanziell hinter dem einer dem gesetzlichen Leitbild der Einlassung entsprechenden, nicht nur persönlich und mündlich, sondern auch in freier Rede und vollständig getätigten Äußerung zurück.

  

Ferner darf das teilweise Schweigen eines Angeklagten als Beweisanzeichen zu seinem Nachteil verwertet werden. Denn ein Angeklagter, der durch eine Einlassung zur Sache an der Aufklärung des gegen ihn erhobenen Tatvorwurfs mitwirkt, jedoch bei seinem Vorbringen einzelne Tat- oder Begleitumstände eines einheitlichen Geschehens verschweigt beziehungsweise auf einzelne Nachfragen und Vorhalte keine oder lückenhafte Antworten gibt, unterstellt aus freiem Entschluss seine Einlassung insgesamt einer Würdigung durch das erkennende Gericht.

  

Allerdings dürfen aus einem Teilschweigen im Rahmen einer Einlassung zu einem bestimmten, einheitlichen Geschehen nur dann nachteilige Schlüsse für den Angeklagten gezogen werden, wenn nach den Umständen Angaben zu dem verschwiegenen Punkt zu erwarten sind, andere mögliche Ursachen des Verschweigens ausgeschlossen werden können und die gemachten Angaben nicht ersichtlich lediglich fragmentarischer Natur sind, es sei denn, der Angeklagte hat zu dem betreffenden Teilaspekt auch auf konkrete Nachfrage hin keine Antwort gegeben.

  

Diese Grundsätze zur Zulässigkeit der Würdigung eines Teilschweigens des Angeklagten zu seinem Nachteil gelten auch dann, wenn sich der Angeklagte in Form einer Verteidigererklärung zur Sache einlässt, die er sich zu eigen macht, und er Nachfragen entweder generell nicht zulässt oder nicht vollumfänglich beantwortet.

  

Denn es macht insofern keinen Unterschied, ob der Angeklagte sich in der Hauptverhandlung selbst mündlich zur Sache einlässt und dabei auf einzelne Punkte des Tatgeschehens nicht eingeht oder er sich der Hilfe seines Verteidigers bedient und diesen für sich unter Auslassung einzelner Teilaspekte zur Sache vortragen lässt. In beiden Fällen macht der Angeklagte in gleicher Weise seine Einlassung zum Gegenstand der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) und muss daher eine umfassende Würdigung seines Vorbringens durch das Tatgericht hinnehmen. Dies gilt auch deshalb, weil der Angeklagte frei ist in seiner Entscheidung, sich Vorbringen seines Verteidigers als seine Einlassung zu eigen zu machen und Nachfragen nicht oder nicht vollständig zu beantworten.

   

Hieran gemessen hat die Strafkammer die ersichtliche Unvollständigkeit der Verteidigererklärung als Indiz dahin werten dürfen, dass die behauptete Notwehrlage tatsächlich nicht bestanden hat und der Angeklagte mit Verletzungsabsicht zugestochen hat. Die Strafkammer hat nachvollziehbar dargetan, dass und warum bei einer wahrheitsgemäßen Einlassung Angaben auch zu den von ihr vermissten Teilaspekten zu erwarten gewesen wären. Das Landgericht hat zudem geprüft, ob es andere Ursachen für die Lückenhaftigkeit der Einlassung gegeben haben könnte, dies allerdings tragfähig ausgeschlossen.

 

 

[1] Die ausschließliche Verwendung der männlichen Form soll nicht den Eindruck erwecken, dass gegen Frauen    

   keine Strafverfahren geführt werden.

[2] § 243 Abs. 5 S. 2 StPO

Es bleibt abzuwarten, ob die Erwägungen des Bundesgerichtshofs Einzug in die Urteile der Tatgerichte halten werden. Bemerkenswert ist, dass seine Ausführungen nicht nur eine Befugnis, sondern sogar eine Verpflichtung des Tatgerichts („sogar gehalten“) enthalten, einen erheblich verringerten Beweiswert einer verlesenen schriftlichen Einlassung im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen. Bereits dies dürfte es dem Tatgericht leichter machen, eine solche Einlassung als widerlegt anzusehen, ohne sich der Gefahr einer Urteilsaufhebung in der Revision auszusetzen. Gleiches gilt für die Würdigung einer Einlassung als Teilschweigen unter den vom Bundesgerichtshof genannten Voraussetzungen. Die Verteidigung dürfte nun umso mehr gehalten sein, eine schriftlich vorformulierte Einlassung des Angeklagten so ausführlich wie möglich zu gestalten, um Lücken in der Darlegung und somit mögliche offene Fragen des Tatgerichts zu vermeiden, die das Tor zum Teilschweigen mit seinen negativen Folgen öffnen könnten.

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22.02.2023

Informationen

BGH
Urteil/Beschluss vom 21.12.2021
Aktenzeichen: 3 StR 380/21 (LG Düsseldorf)

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