Thomas Ehling Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht

Fürsorgepflicht des Vorsitzenden bei der Behandlung von Beweisanträgen

Genügt ein erkennbar als Beweisantrag vorgebrachtes Beweisbegehren seinem Wortlaut nach nicht den Anforderungen an die notwendige Konkretisierung der Beweistatsache, ist es in sonstiger Weise lückenhaft, ungenau formuliert oder mehrdeutig oder bleibt unklar, welcher einsichtige Prozesszweck mit ihm verfolgt werden soll, und lassen sich die hieraus resultierenden Zweifel nicht ohne weiteres eindeutig aus den gesamten Umständen der Antragstellung ausräumen, so ist der Vorsitzende aufgrund der Aufklärungspflicht, die ein Hinwirken auf eine sachdienliche Antragstellung gebietet, der Fürsorgepflicht sowie der Verfahrensfairness (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) grundsätzlich gehalten, den Antragsteller zunächst auf die Bedenken gegen seinen Antrag hinzuweisen und ihm durch entsprechende Befragung Gelegenheit zu geben, die erforderliche Klarstellung vorzunehmen.
Auch wenn dies nicht zum Erfolg führt, bleibt das Gericht verpflichtet, die vom Antragsteller tatsächlich gewollte Beweisbehauptung durch Auslegung zu ermitteln. Diese kann sich nicht nur aus dem Wortlaut des Antrags, sondern aus allen Umständen, die bei einer nach Sinn und Zweck fragenden Auslegung zu berücksichtigen sind, ergeben. Bei mehreren Interpretationsalternativen ist derjenigen der Vorzug zu geben, die zur Beweiserhebung führt.

 

Der Beschluss des BGH stellt keine neuen Anforderungen an den Umgang des Vorsitzenden mit Beweisanträgen des Angeklagten oder anderer Verfahrensbeteiligter. Diese finden sich vielmehr auch in älteren Entscheidungen (siehe nur BGH NStZ 1996, 336 (337); NStZ 1996, 562). Allerdings kommt es in der Praxis der Landgerichte immer wieder vor, dass diese bedeutsame Fürsorgepflicht nicht erfüllt wird. So ist dies nicht selten in Umfangsverfahren der Fall, in denen die Verteidigung eine Vielzahl von Beweisanträgen stellt, die naturgemäß nicht sogleich oder wenigstens alsbald beschieden werden. Vielmehr ergehen erst kurz vor dem Schluss der Beweisaufnahme diverse Kammerbeschlüsse, mit denen die bis dato noch offenen Beweisanträge „abgearbeitet“ werden. In diesen Beschlüssen wird der jeweilige Antrag nicht selten mit der Begründung abgelehnt, es handele sich nicht um einen Beweisantrag, z.B. weil anstelle einer Beweistatsache lediglich ein Beweisziel formuliert wird oder die erforderliche „Konnexität“ zwischen Beweismittel und Beweistatsache nicht dargelegt wird.

 

Die Rechtsprechung des BGH zur Fürsorgepflicht eröffnet der Verteidigung hier verschiedene Möglichkeiten, die davon abhängen, welches Ziel man verfolgt. So kann man einen die Beweisantragsqualität ablehnenden Beschluss hinnehmen, um sodann in der Revision eine Verletzung der Fürsorgepflicht des Vorsitzenden zu rügen. Die Erfolgsaussichten sind, wie diese aktuelle Entscheidung zeigt, jedenfalls nicht schlecht. Geht es der Verteidigung vornehmlich darum, das Gericht unbedingt zu der mit dem Antrag begehrten Beweiserhebung zu veranlassen, so sollte der Antrag noch einmal gestellt werden, und zwar in nachgebesserter Form. Sollte das Gericht bereits zuvor eine Frist für das Stellen von Beweisanträgen gestellt haben (§ 244 Abs. 6 StPO) und diese abgelaufen sein, dürfte der Hinweis auf die Fürsorgepflicht dem Gericht Anlass geben, den nachgebesserten Antrag noch in der Hauptverhandlung und nicht erst in den Urteilsgründen zu bescheiden.

 

Aber denkbar und zielführend dürfte es auch sein, bereits in dem früh gestellten Beweisantrag auf die Bedeutung der Fürsorgepflicht hinzuweisen und um einen ausdrücklichen und früh erfolgenden Hinweis des Vorsitzenden oder des Gerichts für den Fall zu bitten, dass es sich bei dem Antrag aufgrund formeller Mängel aus dortiger Sicht nicht um einen Beweisantrag handeln sollte. Hier zwingt die ausdrücklich in Bezug genommene Fürsorgepflicht dazu, in einen Dialog mit der Verteidigung zu treten und bei der korrekten Antragstellung mitzuhelfen. Die sonst zu erwartende Ablehnung des Antrags kurz vor Schluss der Beweisaufnahme wegen formeller Mängel dürfte sich das Gericht dann nicht erlauben können, soll das Urteil nicht der Revision anheimfallen.

 

Vielleicht mag es einer Verteidigung, die sich in jedem Fall für kompetenter als das Gericht hält und in der Hauptverhandlung entsprechend entschieden auftritt, widerstreben, die Möglichkeit eigener Unzulänglichkeit in den Raum zu stellen und ggf. die Hilfe des Gerichts zu „erbitten“. Lässt man aber sein derart ausgeprägtes Ego einmal ein wenig in den Hintergrund treten, bietet sich hier eine passable Verteidigungsmöglichkeit.

 

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17.02.2025

Informationen

BGH
Urteil/Beschluss vom 26.03.2024
Aktenzeichen: 2 StR 211/23 (NStZ 2024, 684)

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