Dr. Markus Schäpe FA f. VerkR

BGH zum berührungslosen Auffahrunfall

In seiner Entscheidung vom 03.12.2024 hat sich der VI. Zivilsenat am BGH (Az. VI ZR 18/24) u.a. mit dem Anscheinsbeweis, der bei einem Auffahrunfall für einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Hintermanns spricht, befasst. Nach Meinung des Senats kann dieser Anscheinsbeweis auch bei einem „Unfall ohne Berührung“ eingreifen, d.h. wenn ein Motorradfahrer hinter einem stark abbremsenden Pkw ohne Berührung der Fahrzeuge stürzt und es nur durch Zufall nicht zu einer Kollision mit dem Vorausfahrenden kommt.

 

I.    Sachverhalt

Der Kläger befuhr mit seinem Motorrad eine Straße, vor ihm befand sich ein Pkw. Zeitgleich befuhr die Beklagte dieselbe Straße in der Gegenrichtung. Ihre Fahrbahn war durch ein Müllabfuhrfahrzeug blockiert, das gerade beladen wurde. Um an diesem Fahrzeug vorbeizufahren, wechselte die Beklagte auf die Gegenfahrbahn. Der ihr dort entgegenkommende Pkw bremste stark ab, um eine Kollision zu vermeiden. Auch der hinter diesem Auto fahrende Kläger machte eine Vollbremsung. Sein Motorrad, das nicht über ein Anti-Blockier-System verfügte, geriet dabei ins Rutschen, der Kläger stürzte und verletzte sich. Zu einer Kollision des Motorrads mit dem vorausfahrenden Pkw kam es nicht. Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die Beklagte zum Ersatz seines materiellen und immateriellen Schadens verpflichtet ist.

 

II.    Entscheidungsgründe

Das Urteil des Berufungsgerichts hielt einer revisionsrechtlichen Überprüfung in Teilen nicht stand. Nach Auffassung des BGH war die vom OLG vorgenommene Haftungsabwägung nach
§ 17 Abs. 1 und 2 StVG (Haftungsquote der Beklagten zu 40 %) nicht frei von Rechtsfehlern. Insbesondere monierte der Senat die vom Berufungsgericht vorgenommene Beweiswürdigung als ungenügend.

 

Um sich mit dem Rechtsinstitut des Anscheinsbeweises überhaupt befassen zu können, musste sich das Gericht zunächst mit der vom OLG dem Grunde nach bejahten Haftung der Beklagten auseinandersetzen und bestätigte diese auch.

 

Zudem bestätigte der VI. Zivilsenat das Berufungsurteil insoweit, als dass der Unfall für den Kläger nicht unabwendbar im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG gewesen ist: Der Senat weist darauf hin, dass sich die Prüfung dabei nicht auf die Frage beschränken darf, ob der Fahrer in der konkreten Gefahrensituation wie ein „Idealfahrer“ reagiert hat. Vielmehr ist sie auf die weitere Frage zu erstrecken, ob ein „Idealfahrer“ überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre.

 

Letzteres wurde dem Kläger zum Verhängnis: Ein Idealfahrer, der weiß, dass sein Motorrad über kein ABS verfügt und bei einer reflexhaften Vollbremsung ein Sturz droht, hätte von vornherein eine Fahrweise gewählt, mit der ein solches Bremsmanöver in der Situation des Klägers vermieden worden wäre.

 

Die Frage, ob ein Anscheinsbeweis eingreift oder nicht, unterliegt ebenfalls der Prüfung durch das Revisionsgericht. Bei Auffahrunfällen kann der erste Anschein dafür sprechen, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft verursacht hat. Das Auffahren erlaubt grundsätzlich eine alternative Schuldfeststellung dahin, dass der Auffahrende entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO). Ein Kraftfahrer ist nämlich verpflichtet, seine Fahrweise so anzupassen, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, wenn ein Hindernis auf der Fahrbahn auftaucht (BGH, Urteil vom 13.12.2016, Az. VI ZR 32/16, DAR 2017, 196).

 

Genau dieser Konstellation steht nach Meinung des VI. Zivilsenats der Fall gleich, in dem ein Motorradfahrer hinter einem stark abbremsenden Pkw ohne Berührung der Fahrzeuge stürzt und es nur durch Zufall nicht zu einer Kollision mit dem Vorausfahrenden gekommen ist. Steht ein solcher Sachverhalt zur Überzeugung des Gerichts fest, spricht der erste Anschein dafür, dass der stürzende Motorradfahrer den Unfall schuldhaft verursacht hat. Die für den Fall eines Auffahrunfalls dargelegte alternative Schuldfeststellung ist exakt dieselbe.

 

III.    Auswirkungen auf die Praxis

Den (Merk-)Satz „Wer von hinten auffährt, ist schuld“ kennt mittlerweile auch der juristische Laie. Tatsächlich ist der Beweis des ersten Anscheins und seine korrekte Anwendung in der Rechtsprechung ein komplexes Thema.

 

Nur auf den ersten Blick erscheint die Übertragung des Anscheinsbeweises, der bei einem Auffahrunfall für einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Hintermanns spricht, auf den „berührungslosen Unfall“ ungewöhnlich, fehlt es doch in dem entschiedenen Fall an einem tatsächlichen Auffahren.

 

Bei näherer Betrachtung der Entscheidungsgründe entpuppt sich die rechtliche Argumentation aber als in sich stringent und damit überzeugend. Der Rechtsprechung zum Anscheinsbeweis wurde damit höchstrichterlich um eine Fallvariante weiterentwickelt.

 

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16.04.2025

Informationen

BGH
Urteil/Beschluss vom 03.12.2024
Aktenzeichen: VI ZR 18/24

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