Thomas Ehling Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht

Wiederholtes Wiedererkennen durch Zeugen

Bei einer Verurteilung des Angeklagten aufgrund Wiederkennens durch einen Zeugen müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, aufgrund welcher äußeren Merkmale der Zeuge den Angeklagten erkannt haben will.

Konnte ein Zeuge eine ihm zuvor unbekannte Person nur für eine kurze Zeit beobachten, darf sich das Tatgericht nicht lediglich auf die subjektive Gewissheit des Zeugen beim Wiedererkennen verlassen, sondern muss aufgrund objektiver Kriterien nachprüfen, welche Beweisqualität dieses Wiederkennen hat. Diese Nachprüfung ist in den Urteilsgründen darzulegen.

Das wiederholte Wiedererkennen des Angeklagten in der Hauptverhandlung hat einen geringen Beweiswert

(BGH, Beschl. V. 08.02.2023 – 6 StR 516 /22 (NStZ 2023, 250))

 

„Der Zeugenbeweis ist der schlechteste Beweis“. Dieses bekannte Zitat bemühe ich regelmäßig, wenn ich wieder einmal versehentlich eine unzutreffende Erinnerung als feststehende Tatsache behauptet habe und postwendend eines Besseren belehrt worden bin. Abgesehen davon, dass meine diesbezüglichen Fehlleistungen insbesondere Ausdruck meiner persönlichen Defizite im Bereich von Wahrnehmung und Erinnerung sind, weisen doch so gut wie alle Menschen hier gewisse Schwächen auf. Diese Schwächen sind und waren Gegenstand zahlreicher Studien und Experimente. Nur zu gern denke ich an die Polizeibeamten, die vermeintlich zu einer Marktforschung eingeladen und vor dem noch verschlossenen Eingang wartend mit einem ebenso komplexen wie inszenierten Verkehrsunfallgeschehen konfrontiert wurden. Mehrere Fahrzeuge, diverse Personen, Pöbeleien und ein gewisses Chaos; die nachfolgende Befragung der als Polizeibeamten angeblich besonders geeigneten Zeugen förderte dann haarsträubende Widersprüche zutage. Auch der Mann im Gorillakostüm, der im Film im Vordergrund durch das Bild geht und von den Versuchspersonen nicht wahrgenommen wurde, weil Ihre ganze Aufmerksamkeit zuvor von dem Versuchsleiter auf andere Personen im Film gelenkt worden war, hat Eindruck hinterlassen.

 

Die vorstehend genannte Entscheidung des BGH trägt den Unsicherheiten bei der menschlichen Wahrnehmung und Erinnerung Rechnung. Die dort genannten Anforderungen an die Rechtsfindung und deren Dokumentation sind nicht neu. Sie sind es aber wert, sie sich erneut ins Gedächtnis zu rufen. Schließlich haben wir es bekanntlich im Gerichtsalltag regelmäßig mit dem Wiedererkennen oder dem vermeintlichen Wiedererkennen durch Zeugen in der Hauptverhandlung zu tun.

 

Das unter 1. und 2. genannte Erfordernis, sich nicht mit der behaupteten Gewissheit des Zeugen zufrieden zu geben, sondern eine Überprüfung dieser Gewissheit anhand objektiver Kriterien vorzunehmen, ist angesichts der in der Natur des Menschen liegenden Fehlleistungen zu begrüßen. Waren solche objektiven Kriterien aber bereits Gegenstand der Vernehmung des Zeugen im Ermittlungsverfahren und werden sie durch die Befragung des Gerichts in die Hauptverhandlung eingeführt, so dürften die Aussichten der Verteidigung, den Zeugenbeweis in der Hauptverhandlung zu erschüttern oder in der Revision eine einigermaßen aussichtsreiche Sachrüge zu erheben, eher gering sein. Wurden solche objektiven Kriterien zuvor im Ermittlungsverfahren schlichtweg nicht thematisiert, sondern beschränkt sich das Wiedererkennen auf die Mitteilung einer Gewissheit, womöglich absurderweise beziffert in Prozenten, stellt sich der Verteidigung die Frage nach dem nun in der Hauptverhandlung gebotenen Handeln. Ich würde dazu neigen, als Verteidiger nicht nach solchen objektiven Kriterien zu fragen.

 

Die Wahrscheinlichkeit, dass der Zeuge diese nicht benennen kann oder Widersprüche produziert, dürfte eher gering sein. Im Zweifel wird sich der Zeuge den Angeklagten anschauen und sich jene objektiven Kriterien unmittelbar besorgen[1]. Ich würde hier vielmehr lediglich dem „Unauffälligkeitsprinzip“ folgen und die bisher nicht näher konkretisierte und somit unzureichende Gewissheit des Wiedererkennens erst später in der Revision thematisieren.

 

Besondere Bedeutung für die Praxis kommt der unter 3. genannten Feststellung des BGH zu, wonach dem wiederholten Wiedererkennen lediglich ein geringer Beweiswert zukommt. Wurde mit dem Zeugen im Ermittlungsverfahren eine Lichtbildvorlage mit einem Lichtbild des Angeklagten durchgeführt, so besteht die Möglichkeit einer sogenannten „Überlagerung“[2], einer „Überschreibung“ der Erinnerung des Zeugen durch dieses Lichtbild. Neben der Positionierung des Angeklagten als „Angeklagter“ in der Hauptverhandlung mit dem damit verbundenen suggestiven Effekt begründet dies den besagten geringen Beweiswert.

 

Wie ist nun zu verfahren, wenn der Vorsitzende in einem solchen Fall die besagte Frage nach dem Wiedererkennen an den Zeugen richtet? Ich halte es für verfehlt, wenn die Verteidigung hier nicht unmittelbar reagiert, sondern das Geschehen schlichtweg „durchwinkt“. Verfehlt deswegen, weil von einem unwidersprochen gebliebenen „Wiedererkennen“ in der Hauptverhandlung ein unangenehmer suggestiver Effekt, insbesondere auf die Schöffen, ausgeht. Daher schlage ich ein Procedere vor, das sich wie folgt gestalten könnte:

 

Vors. (an den Zeugen): Wenn Sie sich im Gerichtssaal einmal umsehen; erkennen Sie den Täter wieder?

 

Vert.: Ich beanstande die Frage. Ausweislich der Akte ist hier eine Wahllichtbildvorlage mit einem Bild meines Mandanten vorausgegangen. Es handelt sich allenfalls um den Fall eines sogenannten “wiederholten Wiedererkennens“, dessen Beweiswert wegen der Möglichkeit einer Überlagerung der Erinnerung des Zeugen zu vernachlässigen ist. Hinzu kommt der Umstand, dass der Angeklagte hier als solcher zu erkennen ist. Daran ändert auch nichts, dass dem Zeugen als kosmetische Maßnahme nahegelegt wird, sich zunächst im Gerichtssaal umzusehen, als käme hier ein Prozessbeteiligter oder Zuschauer als Vergleichsperson in Frage.

 

Vors.: Ich weise die Beanstandung zurück. Die Kammer ist sich des geringen Beweiswerts eines wiederholten Wiedererkennens bewusst und würde dies in seiner Beweiswürdigung berücksichtigen. Dieser Umstand führt aber nicht dazu, dass die Frage als unzulässig anzusehen ist und zurückgewiesen werden kann.

 

Vert.: Ich bin der Auffassung, dass die Frage sogar als unzulässig zu behandeln ist. Sie wird in Kenntnis um den suggestiven Effekt der Überlagerung gestellt. Damit wird in Kauf genommen, und zwar billigend, dass der Zeuge eine vom Überlagerungseffekt beeinflusste Antwort gibt, die den Angeklagten belastet, aber inhaltlich falsch sein kann. Von daher ist kein Raum für eine Entgegennahme der Antwort mit nachfolgender möglicher Relativierung ihres Beweiswerts. Hinzu kommt die mögliche suggestive Wirkung auf die Schöffen. Ich beantrage einen Gerichtsbeschluss nach § 238 Abs. 2 StPO.

 

Vors. (nach Kammerberatung):

Beschluss: Die Beanstandung der Verteidigung wird zurückgewiesen. Die Frage ist zulässig. Die von der Verteidigung geäußerten Bedenken betreffen lediglich den Beweiswert der Antwort des Zeugen. Die Kammer ist sich des eingeschränkten Beweiswerts bewusst und wird diesen ggf. in seine Beweiswürdigung einstellen.“

 

Hiermit ist – ggf. nach einer Gegenvorstellung der Verteidigung – das Ende der Fahnenstange erreicht. Die Auffassung der Kammer begründet nicht den Vorwurf der Befangenheit, so dass man jetzt den Dingen ihren Lauf lassen kann. Was ist nun aus der Sicht der Verteidigung erreicht? Ich meine, eine ganze Menge. Die Bedenken der Verteidigung waren Gegenstand der Erörterung in der Hauptverhandlung. Die Kammer hat in der Hauptverhandlung eingeräumt, dass der Beweiswert eines solchen Wiedererkennens jedenfalls gering ist. Der Umstand ist durch den Beschluss „festgeschrieben“, so dass im Urteil in der Beweiswürdigung keine hiervon abweichenden Kriterien zugrunde gelegt werden dürfen. Die Verteidigung hat den Schöffen und ggf. der Presse die Problematik des wiederholten Wiedererkennens zur Kenntnis gebracht. Ferner hat die Verteidigung unter Darlegung gewichtiger Argumente Präsenz gezeigt, anstatt die Frage an den Zeugen und die folgende Antwort unkommentiert durchlaufen zu lassen.

 

[1] In dem vom BGH entschiedenen Fall trug der Angeklagte allerdings noch eine Mund-Nasen-Bedeckung.

[2] siehe nur BGH, Beschluss vom 04.12.2018 – 4 StR 443/19

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13.07.2023

Informationen

BGH
Urteil/Beschluss vom 08.02.2023
Aktenzeichen: 6 StR 516 /22 (NStZ 2023, 250

Quelle

NStZ 2023, 226

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