Cornel Pottgiesser FA f. Handels- u. GesR

EuGH stärkt Kartellverfolgung: Eigenständiger Informationsaustausch kann Wettbewerbsverstoß „bezwecken“ (Rs. C-298/22) – Euribor in Gefahr?

1.    Leitsatz
Der regelmäßige Austausch strategisch sensibler, vertraulicher Informationen zwischen Wettbewerbern – etwa über Preise, Spreads oder Kreditvolumina – kann bereits für sich genommen eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV darstellen, ohne dass eine tatsächliche Wettbewerbsauswirkung nachgewiesen werden muss.


2.    Hintergrund
Der Fall betraf mehrere portugiesische Banken, gegen die die nationale Wettbewerbsbehörde Bußgelder verhängte, weil sie über Jahre hinweg sensible, wettbewerbsrelevante Daten untereinander austauschten. Die betroffenen Institute argumentierten, dass ein solcher Informationsaustausch ohne nachgewiesene Marktbeeinträchtigung keine Wettbewerbsbeschränkung darstelle. Der EuGH entschied hingegen, dass gerade die Verringerung der strategischen Unsicherheit unter Wettbewerbern eine „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung begründen könne.

 

3.    Kernaussagen des EuGH
3.1.    Ein regelmäßiger, strukturierter Informationsaustausch über zukünftige geschäftliche Parameter reduziert die strategische Unsicherheit im Markt.
3.2.    Bereits die Eignung zur wettbewerbsbeschränkenden Wirkung genügt; ein Wirkungsnachweis ist nicht erforderlich.
3.3.    Das Vorliegen einer „bezweckten“ Wettbewerbsbeschränkung kann auch ohne weitere Koordination oder Vereinbarung anzunehmen sein.


4.    Bedeutung für die Praxis
4.1.    Senkung der Eingriffsschwelle: Wettbewerbsbehörden müssen keine konkreten Auswirkungen des Informationsaustauschs nachweisen – die abstrakte Eignung zur Beeinträchtigung reicht.
4.2.    Compliance-Risiko steigt: Unternehmen müssen ihre internen Informationsflüsse und Kommunikationswege streng überwachen, da auch scheinbar „neutrale“ Austausche eine erhebliche Bußgeld- bzw. Schadensersatzgefahr begründen.
4.3.    Abschreckungswirkung: Das Urteil sendet ein deutliches Signal an die Wirtschaft, dass auch subtile Formen der Koordination, ohne klassische Kartellabsprachen, scharf sanktioniert werden können.


5.    Ausblick Euribor
5.1.    Diese Grundsätze lassen sich auch auf Konstellationen wie den Euribor oder LIBOR übertragen, bei dem Banken wettbewerbsrelevante Zinserwartungen untereinander austauschen. Der Euribor (Euro Interbank Offered Rate) ist der durchschnittliche Zinssatz, zu dem europäische Banken bereit sind, einander unbesicherte Kredite in Euro zu gewähren. Er dient als Referenzzinssatz für zahlreiche Finanzprodukte – etwa Kredite, Anleihen und Derivate – und wird täglich auf Basis gemeldeter Daten großer Banken veröffentlicht.
5.2.    Wie im Fall C-298/22 handelt es sich beim Euribor um einen stark regulierten Markt mit einer geringen Anzahl von Akteuren, deren Verhalten durch hohe Transparenz und strategische Interdependenz geprägt ist. Ein Austausch über Zinssätze oder Zinsprognosen reduziert die Unsicherheit über das Verhalten anderer Marktteilnehmer und kann dadurch den Wettbewerb erheblich verfälschen.
5.3.    Der EuGH stellt in C-298/22 klar, dass die bloße Eignung zur Wettbewerbsbeeinträchtigung genügt, um eine „bezweckte“ Kartellrechtsverletzung anzunehmen. Übertragen auf den Euribor-Fall bedeutet dies:
5.3.1.    Der Austausch von Informationen über erwartete Zinsentwicklungen oder Einreichungspolitik ist geeignet, den Wettbewerb zu verzerren.
5.3.2.    Eine tatsächliche Marktverfälschung muss nicht konkret nachgewiesen werden.
5.3.3.    Die Regelmäßigkeit und Vertraulichkeit des Austauschs können ausreichen, um ein wettbewerbswidriges Verhalten zu begründen.
5.4.    Das Urteil stärkt die rechtlichen Grundlagen für die Sanktionierung koordinierter Informationsaustausche im Finanzsektor. Benchmarkverfahren wie der Euribor fallen unter besondere kartellrechtliche Aufmerksamkeit. Institutionen müssen jegliche Form der internen oder externen Abstimmung über strategisch relevante Daten vermeiden. Compliance-Strukturen sind entsprechend zu schärfen.
5.5.    Die Entscheidung C-298/22 kann richtungsweisend für die kartellrechtliche Beurteilung von Referenzzinssätzen wie dem Euribor sein. Sie unterstreicht, dass bereits der abstrakt geeignete Informationsaustausch zur Wettbewerbsbeeinträchtigung eine „bezweckte“ Beschränkung darstellen kann – und bietet den Wettbewerbsbehörden ein schlagkräftiges Instrument gegen subtile Koordinierung im Bankenwesen.

 

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02.06.2025

Informationen

Quelle

BGBl. 2024 I Nr. 302 vom 10.10.2024

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