Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

Anhörung des Sachverständigen in der Berufungsinstanz

Ist ein erstes Urteil gesprochen, wird eine Neubefassung des Sachverständigen im Rahmen einer schriftlichen oder jedenfalls mündlichen Ergänzung nicht selten zu einem zähen Ringen der Beteiligten. Wie der folgende Fall zeigt, sind ihm indes berufungsrechtliche Grenzen gesetzt, wenn die II. Instanz die erstinstanzlichen Ausführungen des Sachverständigen abweichend versteht – mithin würdigen will.

 

Der Fall:

Die Kl. begehrt von den Bekl. Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall. Die zum Zeitpunkt des Unfalls 54-jährige Kl. erlitt durch den Unfall zahlreiche Verletzungen. Sie bemühte sich ab Mai bis Ende August 2016 um die Aufnahme ihrer ursprünglichen Arbeitstätigkeit als Fleischereifachverkäuferin im Rahmen der stufenweisen Wiedereingliederung. Die Bekl. zu 2 regulierte den Verdienstausfallschaden der Kl. bis August 2016. Die Kl. begehrt nunmehr unter anderem weiteren Ersatz des Verdienstausfallschadens ab September 2016. Sie macht geltend, der Heilungsverlauf sei nicht erfolgreich gewesen, sie sei arbeitsunfähig und könne die von ihr erlernte Tätigkeit als Fleischereifachverkäuferin nicht weiter ausüben, da sie berufstypische Arbeiten wie das weite Hineinbeugen in die Theke unfallbedingt nicht mehr ausführen könne.

 

Im Hinblick auf ihr Alter und die mangelnde Qualifikation seien eine Vermittlung durch die Agentur für Arbeit in ein anderes Beschäftigungsverhältnis oder eine Umschulung nicht möglich. Sie habe bis heute starke Schmerzen, insbesondere im Fußgelenk, und sei in ihrer Bewegungsmöglichkeit und Bewegungsfreiheit unfallbedingt erheblich eingeschränkt.

Das LG hat Beweis erhoben unter anderem durch Einholung eines orthopädisch-traumatologischen Gutachtens. Das LG hat dem Feststellungsantrag der Kl. hinsichtlich etwaiger künftiger materieller und immaterieller Schäden im Umfang des Anerkenntnisses der Bekl. mit Teilanerkenntnisurteil stattgegeben und die Klage im Übrigen abgewiesen.

 

Die dagegen gerichtete Berufung der Kl. hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Das LG sei auf der Grundlage der Sachverständigengutachten zutreffend zu der Einschätzung gelangt, dass nicht feststellbar sei, dass die Kl. weiterhin unter funktionseinschränkenden körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen leide, die unmittelbar auf das Unfallereignis zurückzuführen wären. Die von der Kl. vorgetragenen funktionellen Beeinträchtigungen seien nicht auf den Unfall zurückzuführen. Deshalb sei die Frage, ob die von der Kl. nach wie vor behaupteten Einschränkungen zu einer Berufsunfähigkeit führten, nicht mehr maßgeblich, da es bereits an der erforderlichen Kausalität mangele. Bezüglich der Kausalität wären schließlich auch von einem Arbeitsmediziner keine weitergehenden Erkenntnisse zu erwarten. Soweit die Kl. in ihrer Stellungnahme zum Hinweisbeschluss auf die Feststellungen des LGs zu dem von ihr im Bereich der Fußwurzel empfundenen Belastungsschmerz verweise, verkenne sie, dass das LG unter Bezugnahme auf das Gutachten des Sachverständigen gerade fehlerfrei festgestellt habe, dass diese Beeinträchtigung zu keiner Limitierung der beruflichen Aktivitäten der Kl. führe.

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Kl. mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde.

 

Die Entscheidung des Gerichts:

Die Nichtzulassungsbeschwerde hatte Erfolg.

Auch wenn es grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts stehe, ob und inwieweit eine im ersten Rechtszug durchgeführte Beweisaufnahme zu wiederholen sei, bedürfe es dann einer erneuten Anhörung des Sachverständigen durch das Berufungsgericht, wenn es dessen Ausführungen abweichend von der Vorinstanz würdigen wolle, insbesondere ein anderes Verständnis der Ausführungen des Sachverständigen zugrunde legen und damit andere Schlüsse aus diesen ziehen wolle als der Erstrichter. Gegen diese Grundsätze hat das Berufungsgericht verstoßen:

 

„Das LG hat dem Gutachten und den Erläuterungen des Sachverständigen entnommen, dass ein von der Kl. empfundener Belastungsschmerz im Bereich der Fußwurzel rechts als Folge des Unfallereignisses zu einer Limitierung der beruflichen Aktivitäten führen kann. Es ist dem Sachverständigen dann darin gefolgt, dass daher unter anderem eine gemischt stehende und gehende Tätigkeit mit gelegentlichen Sitzmöglichkeiten und das Vermeiden von Tragen oder Bewegen von schweren Lasten (10 kg) zu empfehlen sei. Das LG ist nur deshalb zu einer Verneinung des Schadensersatzanspruchs gekommen, weil es davon ausgegangen ist, dass mit diesen Einschränkungen der Beruf der Fleischereifachverkäuferin ausgeübt werden kann. Es hat die Einholung eines arbeitsmedizinischen Sachverständigengutachtens deshalb abgelehnt, weil nach seiner Auffassung der sachverständige Orthopäde von einem zutreffenden Berufsbild der Fleischereifachverkäuferin in seinem Gutachten ausgegangen sei.

 

Demgegenüber hat das Berufungsgericht auf der Grundlage der gutachterlichen Stellungnahmen die Kausalität zwischen den behaupteten Einschränkungen und dem Unfall verneint und deshalb auch nicht die Notwendigkeit für ein weiteres Gutachten zur Tätigkeitsbeschreibung und zum Berufsbild einer Fleischereifachverkäuferin gesehen, weil es bei Verneinung der Kausalität auf die Gestaltung des Arbeitsplatzes der Kl. und ihre insoweit möglicherweise fehlenden Fähigkeiten nicht ankam. Damit hat das Berufungsgericht die Ausführungen des Sachverständigen anders verstanden als das LG und aufgrund dieses anderen Verständnisses den Schluss gezogen, dass es an der Kausalität zwischen den (möglichen) Einschränkungen der Kl. und dem Unfall in allen Punkten fehle.“

 

Die Gehörsverletzung sei auch entscheidungserheblich, denn es könne kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht nach der gebotenen ergänzenden Anhörung des Sachverständigen zu einer anderen Beurteilung gekommen wäre: „Wäre das Berufungsgericht nach eigener Anhörung des Sachverständigen wie das LG zu dem Ergebnis gekommen, dass noch auf den Unfall zurückzuführende Beeinträchtigungen der Kl. im Fuß, insbesondere ein Belastungsschmerz im Bereich der Fußwurzel, vorhanden sind, die zu einer Limitierung der beruflichen Aktivitäten führen können und unter anderem eine gemischt stehende und gehende Tätigkeit mit gelegentlichen Sitzmöglichkeiten fordern, ist nicht auszuschließen, dass es die Notwendigkeit gesehen hätte, dem weiteren Beweisantrag der Kl. auf Einholung eines Gutachtens zu der Frage nachzugehen, ob sie mit diesen Einschränkungen im Hinblick auf ihre erlernte und ausgeübte Tätigkeit als Fleischereifachverkäuferin noch erwerbsfähig ist. Dies gilt umso mehr, als der Sachverständige bei seiner Anhörung einräumte, kein Arbeitsmediziner zu sein, und er einen möglichen Einsatz der Kl. als Fleischereifachverkäuferin nur für möglich hielt, weil er eine Einzelfallanpassung der Arbeit durch die Gewährung gelegentlicher Sitzpausen grundsätzlich für möglich erachtete.“

 

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06.02.2024

Informationen

BGH
Urteil/Beschluss vom 18.07.2023
Aktenzeichen: VI ZR 126/21

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