Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

Behandlungspflicht und Standard - Elementare Aufgaben einer Hebamme

Messlatte jedes Behandlungsfehlers ist der medizinische Standard. Wann aber schlägt er sich auch als (konkrete) Behandlungspflicht nieder, wann bleibt dem Arzt ein (justiziabler) Spielraum und wann bewegen sich Abweichungen noch außerhalb eines haftungsrelevanten Pflichtenfelds? Hierzu äußern sich, in unterschiedlich gelagerten Konstellationen, die folgenden Entscheidungen.

 

Nur scheinbar derselbe Weg zum groben Behandlungsfehler wird beschritten, wenn nach „elementaren“ Pflichten gefragt wird. Denn tatsächlich handelt es sich hierbei nicht um eine gesteigerte Abweichung von ein- und derselben Behandlungspflicht, sondern um eine Feinzeichnung der Behandlungspflicht als von vornherein so hoch im Standard angesiedelt, dass allein schon ihre Verletzung auf einen groben Fehler hinweist. Dass dann allerdings auch diese Einordnung nicht leicht fällt, zeigt der folgende Fall.

Der Fall:


Die Mutter des Kl. traf in der 40. SSW am xx.10.2007 um 2:55 Uhr in der Klinik der Bekl. zu 1) ein, in der die Bekl. zu 2) als angestellte Hebamme tätig war. Das CTG zeigte leichte unregelmäßige Wehen und Auffälligkeiten mit Herztonabfällen. Wegen weiterhin bestehender Herztonabfälle rief die Bekl. zu 2) um 3:15 Uhr die Gynäkologin Dr. G. hinzu, die um 3:18 Uhr im Kreißsaal erschien. Die Kindesmutter gab gegenüber der Ärztin vaginale Blutungen an. Bei der vaginalen Untersuchung zeigten sich ein geschlossener Muttermund und eine Blutung über Regelstärke. Nach einer Ultraschalluntersuchung löste Dr. G. wegen des Verdachts auf eine Plazentaablösung um 3:26 Uhr den Alarm für einen Notkaiserschnitt aus. Um 3:34 Uhr wurde der Kl. entbunden. Er litt unter einer Sauerstoffunterversorgung und ist physisch stark eingeschränkt. Er behauptet, dass es um ca. 2:20 Uhr bei seiner Mutter zu einer Plazentaablösung gekommen sei, die zu starken Blutungen geführt habe. Beim Eintreffen im Krankenhaus habe sie auf starke Blutungen und auch darauf hingewiesen, dass sie nicht wisse, ob die Fruchtblase geplatzt sei. Die Bekl. zu 2) habe dennoch von vaginalen Untersuchungen und einer vorherigen Kontaktierung eines Arztes abgesehen.

Die Entscheidung des Gerichts:


1. Das Gericht ging nach Zeugenvernehmung von der Mitteilung der Blutung bei Klinikaufnahme aus und zog als Sachverständige sodann u.a. eine Hebamme hinzu, die sich jedoch zur Feststellung eines Behandlungsfehlers nicht durchringen konnte, sondern ausgeführt habe, dass sich die Hebamme zunächst vergewissere, ob das Kind lebe und wie die Herzfrequenz sei: „Es sei normal, dass die Vorlage erst ca. 10 min nach Aufnahme kontrolliert werde, insbesondere dann, wenn die Schwangere einen stabilen Kreislauf habe. Auch eine mögliche Nachfrage der Hebamme bei den Eltern nach Menge und Farbe der Blutung hätte am weiteren Vorgehen nichts geändert. Die Hebamme habe alles zügig und gewissenhaft nach dem üblichen geburtshilflichen Standard durchgeführt“. Ergänzend befragt, habe sie darauf verwiesen, dass die festgestellte Blutung insgesamt nur ein Puzzleteil gewesen wäre. Die Vitalzeichen unter Ultraschall seien in dieser Situation das „A“ und „O“. Wenn die Bekl. zu 2) die Blutung zusätzlich festgestellt hätte, wäre der Ablauf genauso gewesen. Denn es müssten alle entsprechenden Daten gesammelt werden. Entscheidend sei - so die Sachverständige - die Blutmenge. Eine größere Blutung als Regelstärke genüge nicht als Angabe, um weitere Schlüsse zu ziehen. Es stehe überall, dass ein Arzt benachrichtigt werden muss, wenn die Gebärende unter der Geburt blutet. Es komme dann aber immer auf Nuancen an, um was für eine Blutung es sich dann wirklich handelt. Die Fachleute würden wissen, ob es sich um eine Blutung handelt, bei der ein Arzt gerufen werden muss.


2. Über die hiernach unterbliebene Einordung als Behandlungsfehler setzte sich das Gericht hinweg und wertete die fehlende Vorlagekontrolle als einen der Bekl. zu 2) vorwerfbaren Behandlungsfehler, „weil nach den 2001 vom Hauptausschuss des Bundes Deutscher Hebammen verabschiedeten Empfehlungen zur Zusammenarbeit von Hebamme und Ärztin/Arzt in der Geburtshilfe (Anl. K 32) entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) u.a. bei Blutungen unter der Geburt die unverzügliche Präsenz nicht eines Arztes schlechthin, sondern eines geburtshilflich erfahrenen Arztes oder sogar des Oberarztes sichergestellt sein muss“. Zwar hätten Leitlinien und Empfehlungen ärztlicher Fachgremien oder Verbände keine konstitutive Wirkung und können nicht unbesehen als Maßstab für den gebotenen medizinischen Standard übernommen werden. „Gleichwohl stellen solche Leitlinien und Empfehlungen einen Wegweiser für den medizinischen Standard dar. Sie geben regelmäßig den anerkannten und gesicherten Stand der medizinischen Wissenschaft oder die Überzeugung maßgeblicher ärztlicher Kreise von der Richtigkeit einer bestimmten Behandlung wieder. Eine Abweichung von solchen Leitlinien und Empfehlungen bedarf daher einer besonderen Begründung.“
Fehlte es aber genau hieran, war der Weg für die Annahme eins Behandlungsfehlers frei: „Ihre von der Empfehlung abweichende Bewertung im Ergänzungsgutachten vom 23.02.2020, die Bekl. zu 2) hätte die Kindeseltern genauer nach der Blutungsstärke befragen können aber nicht müssen, sie hätte sich genauer über die Blutungsstärke informieren können, hat die Sachverständige G. nicht nachvollziehbar begründet. Ihr Hinweis in der Anhörung vom 02.11.2018, dass die Leitlinie nicht das Lehrwissen der Hebammen widerspiegele, überzeugt nicht, weil der Hauptausschuss des Bundes Deutscher Hebammen e.V. der Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), dass u.a. bei Blutungen unter der Geburt die unverzügliche Präsenz nicht eines Arztes schlechthin, sondern eines geburtshilflich erfahrenen Arztes oder sogar des Oberarztes sichergestellt sein muss, uneingeschränkt zugestimmt hat“. Danach aber habe die Hebamme eine umfassende Kompetenz für physiologische Vorgänge, während die Behandlung von Regelwidrigkeiten dem Arzt vorbehalten bleibe. Deshalb gehöre es zu den elementaren Aufgaben einer Hebamme, Regelwidrigkeiten zu erkennen und sie sei bei pathologischen Auffälligkeiten nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, rechtzeitig den Arzt hinzuzuziehen.


3. Wie nun aber von einer „elementaren“ Aufgabe zu einem „groben“ (hier Befunderhebungs-) Fehler aufschließen? Oder allein aufgrund ihrer Vernachlässigung einen solchen bereits annehmen? Das wird in der Entscheidung nicht wirklich deutlich. Möglicherweise also nur vorsorglich, bewegt sich Begründung auf einer stark formulierungsverhafteten Begründung: „Der Sachverständige Dr. W. hat in seiner ergänzenden Anhörung vom 02.12.2016 darauf verwiesen, dass er sich nicht erklären könne, weshalb die Hebamme erst um 3:15 Uhr den Arzt gerufen hat. Wenn sie die überstarke Regelblutung gesehen hätte, hätte sie den Arzt rufen müssen. Dies sei 10 Minuten zu spät erfolgt; dies sei ein Fehler, der einer Hebamme schlicht nicht unterlaufen dürfe“. Der Sachverständige habe damit die Nichtreaktion der Bekl. zu 2) auf die Blutung als grob fehlerhaft gewertet. Auch die Sachverständige G. habe - bei all ihrem geäußerten Verständnis für die Vorgehensweise der Bekl. zu 2) - in ihrer Anhörung vom 15.05.2020 erklärt, dass ein Arzt benachrichtigt werden muss, wenn die Gebärende unter der Geburt blutet und dass dies überall stehe“. Von den zahlreichen Einschränkungen, die die Sachverständige an dieser Stelle zuvor gemacht hatte, ist nun also nicht mehr die Rede. Vielmehr ging das Gericht „im Ergebnis“ davon aus, dass sich die Nichtreaktion der Bekl. zu 2) auf die bei gebotener Befunderhebung festgestellte Blutung als grober Behandlungsfehler darstellt“. Tatsächlich dürfte es näher liegen, dass das Gericht hier bereits von der elementaren Bedeutung geleitet wurde, die es Benachrichtigungspflicht der Hebamme zuvor entnahm.
 

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01.12.2022

Informationen

OLG Rostock
Urteil/Beschluss vom 05.11.2021
Aktenzeichen: 5 U 119/13

Fachlich verantwortlich

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