Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

Behandlungspflicht und Standard - Standard und Berufsanfänger

Messlatte jedes Behandlungsfehlers ist der medizinische Standard. Wann aber schlägt er sich auch als (konkrete) Behandlungspflicht nieder, wann bleibt dem Arzt ein (justiziabler) Spielraum und wann bewegen sich Abweichungen noch außerhalb eines haftungsrelevanten Pflichtenfelds? Hierzu äußern sich, in unterschiedlich gelagerten Konstellationen, die folgenden Entscheidungen.

 

Dass es umgekehrt entscheidend die auf den objektiven Standard bezogene Behandlungspflicht ist und kein übergeordneter sachlicher- oder auch nur Beweismaßstab, der stets den Haftungsmaßstab bildet, macht folgender Fall deutlich, in dem das Gericht trotz Anfängerstatus die Anwendbarkeit der hierauf abzielenden Beweislastregel nach § 630h Abs. 4 BGB offen gelassen hat.


Der Fall:


Der Kl. verlangt von der Bekl. Schadensersatz wegen einer behaupteten Fehlbehandlung am 23.10.2014, an dem er wegen Bauchschmerzen in der Klinik der Bekl. zu 1) vorstellig wurde, wobei er wegen des Umfangs der Schmerzen mit einem stationären Aufenthalt rechnete. Nach Untersuchung des Kl. - durch den seinerzeit zwar bereits approbierten, aber noch nicht als Facharzt qualifizierten Zeugen Dr. V -, deren Umfang zwischen den Parteien streitig ist, der Erhebung von Blutwerten, die moderat erhöhte Entzündungswerte zeigten und der Durchführung eines Einlaufs wurde der Kl. mit leicht gebesserter Symptomatik und der Empfehlung einer Wiedervorstellung im Falle erneut auftretender oder sich verstärkender Beschwerden in die Häuslichkeit entlassen. Ob eine Antibiose verordnet oder empfohlen wurde, ist zwischen den Parteien streitig. Zwei Tage später verspürte der Kl. zu Hause einen plötzlich auftretenden Bauchschmerz, der ihn dazu veranlasste, die Notaufnahme des nachbehandelnden Krankenhauses Aue aufzusuchen. Dort wurde nach Durchführung eines CT eine perforierte Sigmadivertikulitis festgestellt und der Kl. notoperiert, wobei ein künstlicher Darmausgang angelegt werden musste.


Die Entscheidung des Gerichts:


1. Den Einwand fehlender fachlicher Qualifikation des seinerzeit untersuchenden Zeugen Dr. V erachtete das Gericht für nicht durchgreifend. Zu Recht habe das Landgericht die Einhaltung des Facharztstandards gestützt auf die Vernehmung des Zeugen Dr. V bejaht. Ein Sachverständigengutachten zur Frage des Umfangs der erforderlichen Eingangsuntersuchungen sei nicht veranlasst gewesen, da die Vermutung des § 630 h Abs. 4 BGB hier nicht eingreife:
„In der Begründung zum Regierungsentwurf (BT-Drucks. 17/10488, 30) wird ausgeführt, an der erforderlichen Befähigung fehle es dem Behandelnden, soweit er nicht über die notwendige fachliche Qualifikation verfügt, insbesondere wenn er sich noch in der medizinischen Ausbildung befindet oder als Berufsanfänger noch nicht über die notwendige Erfahrung verfügt. Die Ausbildung ist grundsätzlich mit der Approbation abgeschlossen, und es fehlt in den Gesetzesmaterialien ein Hinweis darauf, ob die Facharztanerkennung noch zur „Ausbildung“ zählt oder - was näher liegt - der anschließenden „Weiterbildung“ zuzurechnen ist und damit eine noch fehlende Facharztanerkennung nicht dazu führt, dass es dem Arzt an der erforderlichen „Ausbildung“ fehlt […]. Eine mangelnde „Befähigung“ im Sinne dieser Vorschrift käme danach allenfalls in Betracht, wenn der Zeuge aufgrund seiner Vorausbildung noch nicht befähigt gewesen sein sollte, eine Eingangsuntersuchung bei unklarem Bauchschmerz durchzuführen. Hierfür fehlt es am Vortrag des Kl., der allein auf die Facharztanerkennung abstellt.“


2. Selbst wenn aber - was der Kl. nicht vorgetragen habe und wofür auch sonst nichts spreche - der Zeuge grundsätzlich noch nicht befähigt gewesen sein sollte, solche Untersuchungen vorzunehmen und der Kl. infolge dessen in den beweisrechtlichen Genuss der Vermutung des § 630 h Abs. 4 BGB käme, so wäre es der Beklagtenseite mithilfe des Sachverständigen und der Zeugenaussage gelungen, diese Vermutung gemäß § 292 ZPO zu entkräften: „Der Zeuge hat ausführlich geschildert, welche Untersuchungsschritte er vorgenommen hat. Er hat jeden Quadranten des Bauches untersucht und den Bauch nicht nur auf Druck, sondern auch auf Loslassschmerz untersucht. Gestützt wird die Aussage des Zeugen durch die von ihm angefertigte Skizze, die diesbezüglich Einzeichnungen enthält. Der Sachverständige hat diese Art der Untersuchung als lege artis und ausreichend bezeichnet. Hinreichende Anhaltspunkte für eine fehlende Glaubwürdigkeit des Zeugen hat der Kl. nicht dargelegt. Dass der Zeuge sich an eine sechs Jahre zurückliegende ‚Routineuntersuchung‘ erinnert haben will, mag zwar nicht ganz gewöhnlich sein, die Erinnerung kann sich aber auch durch Einsichtnahme in die Behandlungsunterlagen durch die tatsächlich vorhandene Skizze und durch die ungewöhnliche Tatsache, dass mit diesem Fall ein Rechtsstreit verbunden war, erhalten oder aufgefrischt haben. Die vom Kl. geschilderten vermeintlichen Widersprüch¬lichkeiten im Zusammenhang mit der Anfertigung der Dokumentation sieht der Senat nicht, jedenfalls nicht in einer Form, die geeignet wäre, durchgreifende Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Aussage des Zeugen im Übrigen zu wecken.“
 

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01.12.2022

Informationen

OLG Dresden
Urteil/Beschluss vom 29.11.2021
Aktenzeichen: 4 U 1588/21

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