Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

Erstellung des medizinischen Sachverständigengutachtens - Die Pflicht zur Einholung eines Gutachtens

Im Personenschadensprozess Dreh- und Angelpunkt jeder Entscheidung, ist von vornherein auf die Beauftragung, Erstellung und Kontrolle des medizinischen Sachverständigengutachtens entscheidendes Augenmerk zu richten, bevor vermeidbare Fehler auftreten und - noch schlimmer - übersehen werden.

 

 

 

Nur zu leicht übersehen wird eine pflichtwidrig unterbliebene Begutachtung, wenn mit überzeugend formulierten Gründen deren Notwendigkeit vom Tisch gefegt wird. Dabei sind die Chancen, einen solchen Fehler sogar revisionsrechtlich erfolgreich geltend zu machen, besonders groß.

 


a)    Maßvolle Anforderungen an Klagevortrag und Beweisnotwendigkeit

 


Der Fall:

Die wegen fehlender Passivlegitimation ergangene Klageabweisung greift die Kl. u.a. mit der Begründung an, das LG habe verkannt, dass der geltend gemachte Schadenersatzanspruch nicht auf der Lieferung eines fehlerhaften Hilfsmittels, sondern auf einer fehlerhaften Diagnose, einer unterlassenen ärztlichen Behandlung und einer nicht fachgerechten Durchführung der Krankenpflege seitens der Bekl. basiere. Durch die nicht fachgerechte Anpassung eines Walkers sowie Unterlassung der Nachbehandlung bzw. Behandlung der Druckstellen habe die Kl. eine ausgeprägte Schwellung des linken Fußes, eine residuale Hautläsion am Fußrücken, Beweglichkeitseinschränkungen am linken Fuß sowie Hyperpathie am Fußrücken links und Hypästhesie der Großzehe links erlitten.

Die Entscheidung des Gerichts:

Das OLG gab der Berufung statt, da das LG Notwendigkeit und Anforderungen an die Einholung eines Sachverständigengutachtens verkannt habe:

„Weil das Gericht im Arzthaftungsprozess nur maßvolle Anforderungen an die Darlegungs- und Substantiierungslast des klagenden Patienten stellen darf, muss es - soweit die Patientenseite diesen maßvollen Anforderungen genügt - den Sachverhalt "von Amts wegen" aufklären […]. Mit der eingeschränkten primären Darlegungslast des Patienten geht zur Gewährleistung prozessualer Waffengleichheit zwischen den Parteien regelmäßig eine gesteigerte Verpflichtung des Gerichts zur Sachverhaltsaufklärung (§ 139 ZPO) bis hin zur Einholung eines Sachverständigengutachtens (§ 144 Abs. 1 Satz 1 ZPO) von Amts wegen einher, soweit der Patient darauf angewiesen ist, dass der Sachverhalt durch ein solches aufbereitet wird […]. Daher darf das Gericht den medizinischen Sorgfaltsmaßstab regelmäßig nicht ohne gutachterliche Beratung durch einen medizinischen Sachverständigen festlegen“.

Indem das Landgericht das nach diesen Anforderungen ausreichende Vorbringen der Kl. nicht berücksichtigt und kein Sachverständigengutachten eingeholt habe, habe es den Anspruch der Kl. auf rechtliches Gehör verletzt:

„Die Kl. hat bereits mit der Klageschrift unter Hinweis auf die im Pflegebericht - der Klageschrift als Anlage 2 beigefügt - dokumentierten Beschwerden behauptet, dass durch die Beklagte bzw. deren Personal weder eine Änderung/Anpassung des Walkers noch eine ausreichende medizinische Behandlung veranlasst worden sei. Diesen Vortrag hat sie mit Schriftsatz vom 01. Juli 2020 nochmals konkretisiert und erklärt, dass der geltend gemachte Anspruch nicht auf der Lieferung eines fehlerhaften Hilfsmittels, sondern auf einer unzutreffenden Diagnose, einer unterlassenen ärztlichen Behandlung und einer nicht fachgerechten Durchführung der Krankenpflege beruhe, indem die Beklagte es unter anderem unterlassen habe, aufgrund der am Folgetag der Operation auftretenden Beschwerden den Fuß sowie die Wunde zu kontrollieren und den Walker erneut anzupassen, die Wundbehandlung und die Anpassung durch einen Arzt vornehmen zu lassen und durch das Pflegepersonal rechtzeitig zu reagieren sowie einen Arzt zu rufen, der die Folgen der unterlassenen Anpassung behandelt und so den Schaden gemindert sowie eine Nervenschädigung verhindert hätte. Aufgrund des Behandlungsfehlers habe sie eine ausgeprägte Schwellung des linken Fußes, eine residuale Hautläsion am Fußrücken, Beweglichkeitseinschränkungen am linken Fuß sowie Hyperpathie am Fußrücken links und Hypästhesie der Großzehe links erlitten.

Dieses Vorbringen der Kl. hat das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung ersichtlich nicht zur Kenntnis genommen, sondern hat die Klage allein mit der Begründung einer fehlenden Passivlegitimation abgewiesen, da für die Lieferung sowie Anpassung des Walkers die Streitverkündete und nicht die Beklagte verantwortlich sei. Zwar mag es zutreffend sein, dass die Lieferung des Walkers im Verantwortungsbereich der Streitverkündeten lag. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das Landgericht den Schwerpunkt des Vorbringens der Kl. nicht berücksichtigt hat, wonach die Beklagte keine ausreichende Untersuchung bzw. Behandlung der im Zusammenhang mit dem Tragen des Walkers nach der Behauptung der Kl. aufgetretenen Beschwerden eingeleitet habe.“

Hinzu käme, dass in dem Fall, in dem sich der vorgeworfene Behandlungsfehler sowie dessen Kausalität für die behaupteten gesundheitlichen Beschwerden bestätigten, auch die geltend gemachten materiellen Schäden einer Klärung aufgrund entsprechender Beweiserhebung bedürften.

 

 

b)    revisionsrechtliche Konsequenzen

Unterbleibt eine danach gebotene Beweiserhebung, verletzt dies regelmäßig den Anspruch des Kl. auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und führt - vorbehaltlich einer konsequenten Rüge dieses Verfahrensfehlers im Berufungsverfahren, sonst: Subsidiarität (vgl. BGH 26.09.2017, VI ZB 81/17) - zum Erfolg einer entsprechenden Nichzulassungsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und damit zur Zurückverweisung an das Berufungsgericht nach § 544 IX ZPO.

Der Fall:

Bei dem 2005 von einer Minderjährigen geborenen Kl. zeigten sich bereits im ersten Lebensjahr Entwicklungsverzögerungen. Die zutreffende Diagnose eines fetalen Alkoholsyndroms würde demgegenüber erst 2014 gestellt, weshalb der Kl. eine entsprechend verzögert eingeleitete Therapie rügt.

Das OLG hat Behandlungsfehler verneint. Es könne nicht festgestellt werden, dass der Bekl. der Alkoholkonsum der leiblichen Mutter vor dem 13. September 2012 bekannt gewesen sei. Hinzu komme, dass auch die Institutsambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie M. trotz beschriebenen Alkoholkonsums der leiblichen Mutter nicht die Verdachtsdiagnose FAS gestellt habe. Von einem Befunderhebungsfehler sei unter diesen Umständen nicht auszugehen. Vielmehr seien die Auffälligkeiten auch durch die Vernachlässigung des Kl. in seinen ersten Lebenswochen zu erklären, in denen er nicht die nötige Nähe und Fürsorge erhalten habe. 

Selbst wenn man aber einen Befunderhebungsfehler unterstelle, fehle es mit Ausnahme der "ungebremsten" Aggressivität an einem kausalen Gesundheitsschaden. Denn bei dem partiellen fetalen Alkoholsyndrom handele es sich um eine irreversible Erkrankung und dem vom Privatgutachter beschriebenen Krankheitsbild sei zu entnehmen, dass bei früherer Einleitung einer Therapie keine Verbesserung erreicht werden könne. Die Behauptung der Kl., bei früherer adäquater Therapie wäre eine erheblich gesteigerte Selbständigkeit und ein gemindertes Betreuungsbedürfnis des Kl. erzielt worden, sei mit dem vom Privatgutachter beschriebenen Krankheitsbild nicht in Einklang zu bringen.

Die Entscheidung des Gerichts:

Die Begründung des OLG führte vor dem BGH zur Zurückverweisung der Sache wegen Anmaßung eigener Sachkunde und hierin liegender Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör:

„Die Frage, welche Maßnahmen der Arzt aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs unter Berücksichtigung der in seinem Fachbereich vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten in der jeweiligen Behandlungssituation ergreifen muss, richtet sich in erster Linie nach medizinischen Maßstäben, die der Tatrichter mit Hilfe eines Sachverständigen zu bestimmen hat. Er darf den medizinischen Standard nicht ohne eine entsprechende Grundlage in einem Sachverständigengutachten oder gar entgegen den Ausführungen des Sachverständigen aus eigener Beurteilung heraus festlegen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Tatrichter ausnahmsweise selbst über das erforderliche medizinische Fachwissen verfügt und dies in seiner Entscheidung darlegt […]. Außerdem muss der Tatrichter, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen“.

Ob die Beklagte die beim Kl. bereits in den ersten Lebensmonaten festgestellte Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen und der Sprache und die im weiteren Verlauf vor Beendigung seines vierten Lebensjahrs diagnostizierte Persönlichkeits- und Verhaltensstörung, die Störung der exekutiven Funktionen sowie im Sozialverhalten auf eine Vernachlässigung des Kl. in seinen ersten Lebenswochen zurückführen durfte oder ob sie jedenfalls Ende des Jahres 2009 weitere Maßnahmen zur Abklärung dieser Auffälligkeiten hätte ergreifen müssen, könne ohne medizinische Sachkunde aber nicht beantwortet werden. Gleiches gelte für die Frage, ob die (erst) am 21. Mai 2012 erfolgte Überweisung des Kl. an die Institutsambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie M. - wie vom Berufungsgericht unter Hinweis auf die Empfehlung der S 3 - Leitlinie FASD zur Vorstellung bei einem Neuropädiater bzw. Psychiater angenommen - dem im Behandlungszeitpunkt geltenden medizinischen Standard genügte.

Eine Fortsetzung dieses Fehlers sah der BGH auch in der Hilfsbegründung des OLG: „Das Urteil wird nicht durch die Hilfserwägung des Berufungsgerichts getragen, ein etwaiger […] Behandlungsfehler sei mit Ausnahme der "ungebremsten" Aggressivität nicht kausal für einen Gesundheitsschaden des Kl. geworden; auch bei früherer Einleitung einer Therapie habe eine Verbesserung seines Zustands nicht erreicht werden können: „Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht beanstandet, hat das Berufungsgericht sich auch insoweit gehörswidrig über den zuletzt in der Berufungsbegründung gestellten Antrag des Kl. auf Einholung eines Sachverständigengutachtens hinweggesetzt und die erforderliche Beweiserhebung durch eine eigene medizinische Würdigung des Behandlungsgeschehens ersetzt. Ob die durch die zerebrale Schädigung infolge intrauteriner Alkoholexposition verursachte Funktionsbeeinträchtigung des Kl. durch frühe und individuelle Therapie und Förderung positiv hätte beeinflusst werden können, bestimmt sich nach medizinischen Maßstäben, die der Tatrichter mit Hilfe eines Sachverständigen aus dem betroffenen medizinischen Fachgebiet zu ermitteln hat.“

 

 

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31.12.2021

Informationen

OLG Dresden
Urteil/Beschluss vom 08.06.2021
Aktenzeichen: 4 U 2486/20

Vorinstanzen

BGH
Urteil/Beschluss vom 23.02.2021
Aktenzeichen: VI ZR 44/20

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