Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

Pflegerische Entscheidung zum Handlungsfreiraum eines Suizidpatienten

Medizinisch nachgestellte Personen
Nicht unbeträchtliche Herausforderungen sowohl in der rechtlichen wie in der medizin-fachlichen Bewertung stellen immer wieder Fälle, in den Personen handeln, die in die medizinische Behandlung eingebunden sind, ohne selbst Arzt zu sein, oder jedenfalls nicht den „Kopf“ der ärztlichen Behandlung bilden. Welchen Verpflichtungen sie unterliegen und welche Maßstäbe für die medizinisch-rechtliche Beurteilung gelten, machen die beiden folgenden Fälle aus Köln deutlich.

 

Der Fall:
Der seinerzeit 53-jährige Patient wies sich nach einem zwei Tage zuvor vorausgegangenen Suizidversuch mit neuerlich suizidalen Gedanken, die er im Interesse seiner Familie zu überwinden suchte, gegen Mitternacht in eine psychiatrische Fachklinik ein. Dort wurde er auf freiwilliger Basis auf der Akutstation aufgenommen, wobei er sich mit einer Übernachtung im Sichtbereich unter ständiger Beobachtung durch das Pflegepersonal einverstanden erklärte. Gegen 8.00 Uhr morgens zeigte er sich im pflegerischen Kontakt freundlich und absprachefähig und bat darum, duschen zu dürfen. Auf Nachfrage distanzierte er sich von akuter Suizidalität. Daraufhin erteilte ihm der Pfleger die Erlaubnis, ohne Begleitung duschen zu gehen.
Gegen 8:15 Uhr ging der Patient mit Körperpflegeartikeln und frischer Kleidung zum Duschen. Als eine Labormitarbeiterin bemerkte, dass der Patient längere Zeit im Bad verweilte und die Tür verschlossen war, wurde Pflegepersonal hinzugerufen und die Tür des Bades geöffnet. Der Patient wurde in der Dusche vorgefunden, mit dem Schlauch der Duschbrause um den Hals gelegt. Obwohl er sofort hochgehoben und der Schlauch mit einer Schere durchtrennt und entfernt wurde, blieben durchgeführte Reanimationsmaßnahmen erfolglos und wurde um 9:19 Uhr der Tod des Patienten festgestellt.
Die Kl. rügen, dass das Vorliegen akuter Suizidgefahr habe nicht ohne vorherige ausführliche ärztliche Exploration ausgeschlossen und dem Patienten das Duschen mit einem Duschschlauch nicht hätte erlaubt werden dürfen. Auf einer geschlossenen psychiatrischen Station, auf der Patienten mit akuter Suizidgefahr behandelt würden, dürfe es keine Duschen mit Duschschlauch geben. Die Eröffnung der Gelegenheit zum unbegleiteten Duschen habe die Suizidneigung des Patienten verstärkt.


Die Entscheidung des Gerichts:
Das LG hat die Klage nach Einholung eines psychiatrischen Gutachtens abgewiesen, das OLG die hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen:
Entgegen der Annahme der Kl. sei es Pflegekräften auf einer psychiatrischen Akutstation nicht grundsätzlich untersagt, von der ärztlichen Anordnung einer dauerhaften Überwachung abzuweichen und einem Patienten unbeaufsichtigte Phasen, wie etwa hier zur Durchführung der Körperpflege, zu gestatten. Der Sachverständige habe die grundsätzliche Zulässigkeit von Lockerungen durch das Pflegepersonal ohne vorherige Abstimmung mit einem Arzt ausdrücklich bejaht. Dass gegen die Gewährung von bestimmten Lockerungen von einer ärztlichen Anordnung durch das Pflegepersonal bei Patienten keine grundsätzlichen Bedenken bestehen, habe auch der Sachverständige deutlich gemacht. Allerdings gehöre es zu den Aufgaben und zum Alltag von berufserfahrenen Pflegekräften in einer psychiatrischen Klinik, eine mögliche Suizidalität eines Patienten zu hinterfragen und zu beurteilen. Hier sei die Vorgehensweise indes angesichts des nicht einmal zwei Tage zurückliegenden Suizidversuch des Patienten, den sich ihm am Vorabend weiter aufdrängenden Suizidgedanken, der Notwendigkeit stützender Interventionen in der Nacht, der Ambivalenz des Patienten, seinem erst kurzen Aufenthalt auf der Station und der daraus folgenden fehlenden Bekanntheit des Patienten im Krankenhaus fehlerhaft gewesen und habe die Notwendigkeit einer vorherigen Rücksprache mit einem Arzt der Bekl. bestanden. Konkret geboten sei es gewesen, den Patienten durch einen Arzt psychiatrisch zu untersuchen und erst im Anschluss an die Untersuchung darüber zu entscheiden, ob ein unbeaufsichtigtes Duschen des Patienten zu vertreten war. Die Gestattung des Duschens ohne vorherige ärztliche Exploration stelle einen Behandlungsfehler dar.
Allerding lasse sich nicht feststellen, dass dieser Behandlungsfehler für den Tod des Patienten ursächlich geworden sei:
„Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen hätte ein ärztlicher Behandler nach einem Gespräch mit dem Patienten die gleiche Entscheidung wie der Krankenpfleger treffen und dem Patienten ein unbeaufsichtigtes Duschen gestatten können. Eine solche mögliche Entscheidung eines Arztes wäre nicht fehlerhaft gewesen. Ein ärztlicher Behandler hätte versucht zu erforschen, ob der Patient in dem Gespräch hinreichend von einer Suizidalität distanziert ist. Als einen möglichen Grund für eine ärztliche Entscheidung zum unbeaufsichtigten Duschen hat der Sachverständige genannt, dass die Angabe des Patienten gegenüber dem Krankenpfleger, sich nicht umbringen zu wollen – dass ein Gespräch zwischen dem Krankenpfleger und dem Patienten zum Thema Suizidalität stattgefunden hat, hat der Sachverständige dem in der Dokumentation verwendeten Begriff der Absprachefähigkeit entnommen –, von dem Patienten zu diesem Zeitpunkt ernst gemeint gewesen sein könnte. Denkbar sei, dass der Entschluss zum Suizid erst in der Dusche spontan gefallen sei. Dies hätte aber auch ein Arzt nicht vorhersehen können.
An seiner Beurteilung hat der Sachverständige auch auf kritisches Nachfragen des Prozessbevollmächtigten der Kl. in der mündlichen Verhandlung beim LG, ob ein Arzt bei einem Gespräch mit dem Patienten nicht bessere Erkenntnisse hätte erzielen können, festgehalten. Er hat die Umstände genannt, die in der konkreten Situation gegen eine akute Suizidalität und für eine Erlaubnis zum unbeaufsichtigten Duschen gesprochen hätten. Der Patient habe bei Aufnahme geäußert, dass er einen Sinn im Leben sehe, er habe über ein gefestigtes Umfeld verfügt, sei verheiratet gewesen und habe Familie gehabt, er habe einen Beruf gehabt und der nächste Urlaub sei bereits geplant gewesen. Zudem habe der Patient bei der stationären Aufnahme, zu der er sich freiwillig entschieden hatte, erklärt, er wolle für seine Familie leben und könne im stationären Rahmen für sich garantieren. Der Sachverständige hat auch auf diejenigen Umstände hingewiesen, die gegen eine Lockerung der Überwachung des Patienten gesprochen hätten. So habe der Patient erst zwei Tage zuvor einen Suizidversuch unternommen, er habe schon längere Zeit mit Suizidgedanken gespielt, was selbst von seiner Familie unbemerkt geblieben sei. Der Patient sei auf der psychiatrischen Station der Bekl. als Patient nicht bekannt gewesen und habe dort erst seit acht Stunden unter Beobachtung gestanden. Die Nacht habe sich nicht durchweg komplikationslos, sondern eher wechselhaft dargestellt, es seien Krisen und erforderliche Interventionen beschrieben worden. Der Patient habe sich letztlich als schwer einschätzbar erwiesen, er sei impulshaft gewesen.
Auch unter Berücksichtigung dieser Umstände hat der Sachverständige an seiner Einschätzung festgehalten, ein ärztlicher Behandler hätte sich nicht zwingend für die größtmögliche Sicherheit entscheiden müssen. Er hat darauf hingewiesen, dass der Patient in der Nacht die Hilfe des Teams akzeptiert und sich bereitgefunden habe, an der Behandlung mitzuwirken. Zudem habe der Patient der Ärztin Dr. P. beim Aufnahmegespräch viele Dinge offenbart, die er in der Uniklinik Y. zuvor nicht preisgegeben habe. Dadurch habe er sich einen Vertrauensvorschuss gegenüber den Behandlern im Hause der Bekl. erarbeitet. Aus diesem Vertrauensvorschuss heraus hätte ein Arzt die gleiche Entscheidung wie der Krankenpfleger treffen können.
Diese Beurteilung und die ihr zugrundeliegenden Erwägungen sind schlüssig. Ein Arzt hätte ungeachtet seiner umfangreicheren Ausbildung und besseren Qualifikation die gleichen Beurteilungsgrundlagen wie ein Krankenpfleger gehabt. Er hätte ebenfalls von einer Absprachefähigkeit des Patienten ausgehen können. Er hätte insbesondere dem Gesichtspunkt, ein sich entwickelndes Vertrauen des Patienten in die Behandlung nicht zu gefährden, den Vorrang vor der Gewährleistung einer möglichst hohen Sicherheit geben können. Die Wahrscheinlichkeiten, dass bei Erhebung des psychischen Befundes am Morgen des 00.00.2019 eine akute Suizidalität oder deren Abwesenheit festgestellt worden wären, hat der Sachverständige als ungefähr gleich bezeichnet.“
Einen Fall der Beweislastumkehr hat das OLG nicht angenommen, wobei es (letztlich) auf den fachlichen Standard einer Pflegekraft abgehoben hat:
„Im vorliegenden Fall fehlt es bereits an dem Vorliegen bewährter Behandlungsregeln oder gesicherter medizinische Erkenntnisse, gegen die verstoßen worden ist. Der Sachverständige H. hat erläutert, dass es konkrete Vorgaben, wie in einer entsprechenden Situation zu verfahren sei, nicht gebe. Die Leitlinien träfen keine konkrete Aussage darüber, ob vor der Erteilung einer Erlaubnis zum unbeaufsichtigten Duschen eine psychiatrische Untersuchung des Patienten erfolgen müsse. Es sei eine Betrachtung des konkreten Einzelfalls geboten. […] Darüber hinaus fehlt es aber auch an einem aus objektiver Sicht nicht mehr verständlichen Verhalten der Pflegekraft, die dem Patienten […] das Duschen ohne Aufsicht gestattet hat. Die vom LG festgestellten Gründe, die das Unterlassen einer Herbeiführung einer ärztlichen Exploration und Entscheidung als nicht objektiv unverständlich erscheinen lassen, stehen auch der Annahme eines in der fehlerhaften Gestattung unbeaufsichtigten Duschens durch die Pflegekraft liegenden groben Behandlungsfehlers entgegen. Der eine Fehler ist die Kehrseite und das Spiegelbild des anderen. Die das Verhalten der Pflegekraft als objektiv verständlich erscheinen lassenden Gründe sind die Öffnung des Patienten gegenüber der untersuchenden Ärztin im Rahmen des Aufnahmegesprächs, die durch den Patienten aus freien Stücken getroffene Entscheidung zur stationäre Behandlung, haltgebende Faktoren wie Familie Beruf und Zukunftspläne, ein Erfolg der stützenden nächtlichen Interventionen des Pflegepersonals sowie die Prüfung und Dokumentation einer Absprachefähigkeit, welche nach den Erläuterungen des Sachverständigen in einer Situation wie der vorliegenden gerade die Prüfung der Absprachefähigkeit in Bezug auf eine möglichen Suizid umfasste.
Sehe man den Schwerpunkt des vorwerfbaren Verhaltens in einem fehlerhaften Unterlassen der Herbeiführung einer psychiatrischen Exploration des Patienten vor Gestattung des unbeaufsichtigten Duschens, ergebe sich hinsichtlich der Schadenskausalität nichts Anderes:
„Auch das Unterlassen hat sich vorliegend nicht schadensursächlich ausgewirkt. Eine Entscheidung des Arztes gegen ein unbeaufsichtigtes Duschen, die den Suizid mittels des Duschschlauches sicher verhindert hätte, lässt sich nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit feststellen. Soweit der Kl. geltend macht, dass ein Gespräch mit einem Arzt das Verhalten des Patienten in sonstiger Weise, etwa im Sinne einer Abstandnahme von einem geplanten oder spontanen Suizidversuch hätte beeinflussen können, hat der Sachverständige hierfür keine Anhaltpunkte gesehen. Solche werden vom Kl. auch nicht benannt.“

 

 

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02.06.2025

Informationen

OLG Köln
Urteil/Beschluss vom 21.08.2024
Aktenzeichen: 5 U 127/23

Fachlich verantwortlich

Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

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