Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe
Hat sich ein allgemeines Behandlungsrisiko verwirklicht, das für den Behandelnden voll beherrschbar war und das zur Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit des Patienten geführt hat, setzt die Beweislastumkehr bereits auf der Ebene der Pflichtverletzung selbst an, wird also der Behandlungsfehler selbst vermutet. In der Praxis stehen dabei Sturz- und Lagerungsschäden immer wieder im oberen Bereich der Agenda, wenngleich gerade sie – wie die folgenden Fälle zeigen – sich einer Zuordnung zum voll beherrschbaren Bereich häufig versperren.
Der etwa 61-jährige Kl. verlangt von der Bekl. Schadensersatz u.a. mit der Behauptung, eine dort von der Notaufnahme wegen Übelkeit und massiven Kopfschmerzen veranlasste, zunächst negativ gebliebene Sturzrisikoerfassung sei im Verlauf seines Aufenthalts nicht mehr aktualisiert worden. Als sich sein Zustand verschlechterte, wurde er auf die Stroke Unit verlegt, wo er zwischen dem 29. und 30.04.2020 bei dem Versuch, auf den Nachtstuhl zu gelangen, aus dem Bett stürzte und sich u.a. eine frische Deckenplattenimpressionsfraktur LWK-3 zuzog.
Nach erstinstanzlicher Klageabweisung rügt der Kl. weiterhin eine unzureichende Sturzprophylaxe in Form eines nicht angebrachten schützenden Bettgitters. Zu Unrecht habe der Sachverständige ein erhöhtes Sturzrisiko verneint und eine Prädisposition für Wirbelkörperfrakturen wegen Osteoporose unterstellt. Der unfallchirurgische Sachverständige habe seinen Feststellungen überdies ein „Rutschen aus dem Bett“ auf der Normalstation zugrunde gelegt, obwohl sich der Sturz erst nach Verlegung auf die stroke unit ereignet habe. Dies folge nicht zuletzt aus der Behandlungsdokumentation. Da Alternativursachen für den Eintritt einer Fraktur bei ihm ausgeschlossen seien, zugleich aber feststehe, dass sich die Fraktur während des stationären Aufenthalts ereignet habe, könne er einen Anscheinsbeweis für die Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Schaden für sich in Anspruch nehmen.
Das OLG hat die Berufung zurückgewiesen, da es sich bei der allgemeinen Lagerung eines Patienten während des stationären Aufenthalts im Bett nicht um einen voll beherrschbaren Bereich handele. Hierunter fielen lediglich Gefahrensituationen, die durch den Betrieb des Behandelnden gesetzt und durch sachgerechte Organisation und Koordinierung des Behandlungsgeschehens objektiv voll beherrscht, d.h. ausgeschlossen werden könnten und müssten. Nur in einer solchen Situation greife zu Gunsten des Patienten die Vermutung, dass die Verletzung auf einem Behandlungsfehler, also einer Pflichtverletzung beruhe. Um ein solches Risiko handele es sich bei der Lagerung des Kl. im Bett nicht, unabhängig davon, ob man ein Sturzereignis durch „Herausrutschen aus dem Bett“ auf der Normalstation oder auf der stroke unit zugrunde lege:
„Voraussetzung für eine Beweislastumkehr ist nämlich, dass sich der Patient in einer konkreten Gefahrensituation befindet, die gesteigerte Obhutspflichten auslöst und deren Beherrschung einer speziell dafür eingesetzten Pflegekraft anvertraut wird, wie es beispielsweise für auf der Krankenstation am Patienten vorgenommene Bewegungs- und Transportmaßnahmen zutrifft. Die Aufgabe, den Patienten hierbei vor Stürzen zu schützen ist Bestandteil des Behandlungsvertrages und damit Teil der Verpflichtung des Krankenhausträgers zu sachgerechter pflegerischer Betreuung […]. Vorliegend geht es aber um den normalen alltäglichen Gefahrenbereich, der grundsätzlich in der eigenverantwortlichen Risikosphäre des Geschädigten verbleibt […]. Entgegen der in der Berufung geäußerten Auffassung ändert hieran der individuelle Zustand des Kl. am 29. und 30.04.2020 nichts. Der Kl. befand sich jedenfalls zu diesem Zeitpunkt nicht in einem Zustand, der eine 24 Stunden-Individualbetreuung oder die Anbringung eines Bettgitters erfordert hätte. Nach den Ausführungen beider Sachverständiger wies er zwar sowohl am 29. als auch am 30.04.2020 ein erhöhtes Sturzrisiko wegen einer „eingeschränkten Kognition“ bei gleichzeitig gebesserter linksseitiger Hemiparese auf […], war jedoch zugleich in seiner Mobilität erheblich eingeschränkt, so dass ein unkontrollierter Bewegungsdrang, der in den Versuch, das Bett zu verlassen, hätte münden können, nicht zu erwarten war. […] Dies entspricht der von beiden Sachverständigen in Bezug genommene Pflegedokumentation, die eine nur sehr eingeschränkte Eigenmobilität des Kl. und einen fehlenden Bewegungsdrang festhält. […] In dieselbe Richtung zielen die Ausführungen des neurologischen Sachverständigen Prof. P., wonach es sich bei dem Sturz nicht um ein vorhersehbares Risiko gehandelt habe, weil Anhaltspunkte dafür, dass der Kl. agitiert gewesen sei, nicht vorgelegen hätten […]. In einer solchen Situation kann sich der Kl. auch nicht auf einen Anscheinsbeweis stützen. Mit der dem Beschluss des Senats vom 7.3.2012 (4 W 123/12) zugrunde liegenden Fallgestaltung, die durch ein für die Behandler erkennbares Alkoholentzugsdelir mit massiver Unruhe und Agitiertheit geprägt war, ist der Zustand des Kl. am 29.4.2020 in keiner Weise vergleichbar. Gegen die auf die Dokumentation gestützten und für den Senat in jeder Hinsicht nachvollziehbaren Annahmen der Sachverständigen vermag die Berufung nichts zu erinnern.“
Bei dem festgestellten und voraussehbaren Krankheitsbild und Zustand des Kl. habe in dieser Situation weder eine Pflicht zur durchgehenden persönlichen Überwachung bestanden noch zur präventiven Anordnung medikamentöser oder mechanischer Sicherungsmaßnahmen:
„Wegen der Schwere und notwendigen Dauer solcher Eingriffe, insbesondere wegen des freiheitsentziehenden Charakters eines Bettgitters muss stets im Einzelfall sorgfältig abgewogen und entschieden werden, ob und welcher besonderen Sicherungsmaßnahmen ein Patient bedarf […]. Gegen derartige Sicherungsmaßnahmen spricht hier entscheidend, dass bei dem Kl. ex ante nach den Feststellungen der Sachverständigen nicht mit dem Versuch gerechnet werden musste, eigenständig das Bett zu verlassen, weil erl keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Willen zur Eigenmobilisierung an den Tag gelegt hatte. In einer solchen Situation hätte die Anbringung eines Bettgitters eine freiheitsentziehende Maßnahme dargestellt, für die ex ante keine Rechtfertigung bestand, worauf insbesondere der Sachverständige Prof. N. hingewiesen hat. In die verfassungsrechtlich geschützte Bewegungs- und Entschließungsfreiheit des Patienten darf aber nur eingegriffen werden, wenn hinreichend konkrete Anhaltspunkte für eine Eigengefährdung des Patienten bestehen. Hingegen verbietet sich die präventive Anordnung eines Bettgitters […]. Gegen die Anbringung eines Bettgitters spricht überdies, dass – wie dem Senat aus zahlreichen Arzthaftungsverfahren geläufig ist – Stürze hiermit nur unzureichend verhindert werden können, bei Überwindung des Bettgitters der Patient aber ein erhöhtes Verletzungsrisiko aufweist.“
OLG Dresden 03.12.2024 – 4 U 1123/24
Die Kl. macht gegen die Bekl. Ansprüche wegen eines behaupteten Lagerungsfehlers und hierdurch verursachter Nervschädigung bei einer laparoskopischen Eileiterentfernung in der Klinik der Bekl. geltend. Mit seiner gegen das klageabweisende Urteil des LGs gerichteten Berufung verfolgt der Kl. sein Klageziel weiter.
Das OLG hat die Berufung zurückgewiesen, da es die Frage, ob ein Fall des voll beherrschbaren Risikos vorliege, zu Recht habe offenlassen können:
„Die Vermutung des § 630 h Abs. 1 BGB knüpft an Risiken an, die ärztlicherseits voll ausgeschlossen werden können und müssen, die also nicht auf dem von den Unwägbarkeiten des lebenden Organismus beeinflussten Kernbereich ärztlichen Handelns beruhen […]. Dass es sich um einen solchen vollbeherrschbaren Bereich handelt, steht aber zunächst zur Beweislast des Patienten, der hierfür den Vollbeweis führen muss […]. Die Kl. müsste also zunächst mit dem Beweismaß des § 286 ZPO den Nachweis führen, dass im vorliegenden Fall etwaige Lagerungsschäden bei andersartiger oder sorgfältigerer Lagerung hätten vermieden werden können. Dieser Beweis erscheint vorliegend zweifelhaft, denn der Sachverständige hat insoweit unwidersprochen ausgeführt, dass die Risiken von lagerungsbedingten Nervschädigungen unter der Operation zwar minimiert, jedoch niemals ausgeschlossen werden könnten“.
Auch wenn man ungeachtet dessen von einer Beweislast der Bekl. für eine ordnungsgemäße Lagerung ausgehen würde, hätte die Berufung indes keine Aussicht auf Erfolg: „Im Grundsatz würde unter dieser Prämisse gelten, dass die Behandlungsseite die Darlegungs- und Beweislast für die technisch richtige Lagerung des Patienten auf dem Operationstisch während des gesamten Eingriffs und in der postoperativen Aufwachphase trifft […]. Nach den zutreffenden Ausführungen des LGs […] hätte die Bekl. diesen Beweis erbracht. […]
Der Hinweis der Kl. auf die insoweit nicht ergiebige Dokumentation verfange nicht:
„Der Sachverständige hat den Operationsbericht als sehr ausführlich und die Details der Lagerung als nicht dokumentationspflichtig bezeichnet. Aus einem recht knappen Operationsbericht kann indessen nicht gefolgert werden, dass es während der Operation zu dokumentationspflichtigen Zwischenfällen oder Ereignissen gekommen ist, die der Operationsbericht verschweigt. Denn der Operationsbericht dient weder dazu, ärztliches Handeln lückenlos in sämtlichen Details festzuhalten, noch dazu, die tatsächlichen Grundlagen eines Haftpflichtprozesses gegen den Arzt zu schaffen oder zu erschüttern.“
Nicht zu beanstanden sei auch, dass das LG den Zeugen, die im Einklang mit den vom Sachverständigen geforderten Maßnahmen zur ordnungsgemäßen Lagerung genau diejenigen Maßnahmen auch beschrieben hätten, Glauben geschenkt habe:
„Wenn die Zeugin B. der Dokumentation entnommen haben will, dass Schulterstützen verwendet wurden, so muss dies nicht zwangsläufig heißen, dass die Stützen als solche in der Dokumentation beschrieben sind. Es ist auch ohne weiteres denkbar, dass sich der Schluss auf die Verwendung der Stützen in anderer Weise aus der Dokumentation ergibt, beispielsweise aus der beschriebenen Art der Lagerung. Insoweit liegt also kein Widerspruch vor. Es trifft auch nicht zu, dass die Zeugin D. ausgeführt habe, die Schulterstützen seien im vorliegenden Fall nicht erforderlich gewesen. Wörtlich gab sie an: ‚Heute haben wir einen anderen Standard. Wir nutzen Vakuummatratzen. Da sind Schulterstützen nicht unbedingt erforderlich.‘ […]. Dies betrifft also ersichtlich einen anderen Fall. Die von den Zeugen beschriebene Art der Lagerung (Steinschnittlage, Trendelenburglage) beinhaltet ebenfalls keinen Widerspruch: Die Zeugin D. berichtete, dass bei derartigen Eingriffen die Patientin zunächst ‚nicht‘ in Steinschnittlage gelagert werde […]. Man könne zwar den OP-Tisch elektrisch so steuern, dass eine Steinschnittlage erreicht werde, hier sei es aber auf jeden Fall erforderlich, dass der Kopf tiefer gelagert werden müsse. Damit hat sie – neben der typischen Abspreizung eines Armes – das wesentliche Merkmal der Trendelenburglagerung beschrieben, woraus sich zugleich zwangsläufig das Erfordernis der Abstützung mit Schulterstützen ergibt, da das Verrutschen der Patientin auf dem OP-Tisch vermieden werden muss. Dies hat die Zeugin ebenfalls gut nachvollziehbar beschrieben. Ebenso hat sie detailreich beschrieben, wie dieses mehrfach kontrolliert werde. […] Im Übrigen dürfen an den Nachweis der ordnungsgemäßen Lagerung keine überspannten Anforderungen gestellt werden, denn es handelt sich um jahrzehntelang eingespielte Routinevorgänge, die dauerhaft nur dann in konkreter Erinnerung haften, wenn es Abweichungen vom Gewöhnlichen gab“.
Darüber hinaus wäre der Kl. aber auch bei unterstelltem voll beherrschbaren Risiko und Beweiserleichterungen zu ihren Gunsten der Nachweis des gerade durch die Lagerung verursachten Nervschadens nicht gelungen:
„Beim Vorliegen eines „voll beherrschbaren Risikos“ erstreckt sich die Beweiserleichterung nämlich nicht auf den Nachweis der Kausalität zwischen dem Behandlungsfehler und dem Eintritt des Primärschadens […]. Der Sachverständige Prof. B. hat in diesem Zusammenhang in seinem schriftlichen Gutachten erläutert, auch die unstreitig bei der Kl. vorhandene Vorschädigung in Gestalt einer linksbetonten Auswölbung (“Bulging“) der Bandscheibe im Segment HWK 5/6 und die linksbetonte Facettengelenkshypertrophie mit konsekutiver Einengung des linken Neuroforamens könne möglicherweise den Nervschaden verursacht haben […]. Vor diesem Hintergrund sei eine durch eine Fehllagerung seitens der Bekl. verursachte Schädigung des Plexus brachialis aus anästhesiologischer Sicht nicht nachweisbar.
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