Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

Voll beherrschbare Haftung? - Dekubitus

Voll beherrschbare medizinische Risiken führen rasch zur Haftung, da nun gem. § 630h Abs. 1 BGB bereits eine Pflichtverletzung des Arztes vermutet wird. Umso kritischer bleibt die Einordnung eines Risikos als voll beherrschbar, umso aufmerksamer aber auch der Blick auf Fallkonstellationen, inwieweit ein voll beherrschbares Risiko als Schadensquelle überhaupt in Betracht zu ziehen ist.

 

 

 

Seit jeher ein Grenzfall in der Rspr. bildet der Dekubitus, der aufgrund eines allzu rasch auf der Hand liegenden Pflegefehlers immer als voll beherrschbar eingestuft wird. Das hat das OLG im vorliegenden Fall indes überzeugend verneint.

 

 

 

Der Fall:

Die Kl. verlangt von der Bekl. Schadensersatz wegen einer behaupteten fehlerhaften Dekubitusprophylaxe und -behandlung im Hause der Bekl. Dort wurde die Kl. in der Nacht vom 21. auf den 22.10.2017 gegen 23.15 Uhr notfallmäßig wegen einer akuten Lungenerkrankung eingeliefert und zunächst auf der Intensivstation behandelt, wo sie unter anderem intubiert und sediert, zwischendurch auch fixiert und anschließend am 08.11.2017 auf die normale Innere Station verlegt wurde. Im Entlassungsbericht ist ein Dekubitus am Gesäß mit dem Grad 2 beschrieben. Am 16.11.2017 wurde von diesem Dekubitus eine Bildaufnahme gefertigt.

Die Kl. rügt unzureichende vorbeugende, pflegerische und Behandlungsmaßnahmen und sie behauptet, dass bei der Erstentlassung am 17.11.2017 bereits ein Dekubitus Grad 4 vorgelegen habe. In der Folgezeit habe sie erhebliche Schmerzen und Beeinträchtigungen infolge der Dekubitusbehandlung erleiden müssen. Wegen der Einzelheiten des Behandlungsablaufes und des Kl.ischen Vorbringens wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen.

 

 

 

 

Die Entscheidung des Gerichts:

Einen Anwendungsfall des § 630 h Abs. 1 BGB hat das OLG sachverständig beraten verneint. Nur ausnahmsweise könne der Patient Beweiserleichterungen nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen für sich in Anspruch nehmen: „So muss die Behandlungsseite dann, wenn sich ein Risiko verwirklicht, das von ihr hätte voll beherrscht werden können und müssen, darlegen und beweisen, dass sie alle erforderlichen organisatorischen und technischen Vorkehrungen ergriffen hatte, um das Risiko zu vermeiden […]. Voll beherrschbare Risiken sind dadurch gekennzeichnet, dass sie durch die Klinik oder Praxisbetrieb gesetzt und durch dessen ordnungsgemäße Gestaltung - wie sachgerechte Organisation und Koordinierung des Behandlungsgeschehens - objektiv voll ausgeschlossen werden können und müssen. Sie sind allerdings abzugrenzen von den Gefahren, die aus den Unwägbarkeiten des menschlichen Organismus bzw. den Besonderheiten des Eingriffs in diesen Organismus erwachsen und deshalb der Patientensphäre zuzurechnen sind“.

Hierzu zähle regelmäßig – und auch hier – das Risiko, während eines stationären Krankenhausaufenthaltes einen Dekubitus zu erleiden: „Auch vorliegend begegnet die sachverständig gestützte Feststellung des Landgerichts keinen Bedenken, dass die Entstehung des Dekubitus bei der Kl. […] gerade nicht auf der unzureichenden Gestaltung, Organisation und Koordinierung des Behandlungsgeschehens beruhte, sondern hierfür ihre individuellen Risikofaktoren sowie die Besonderheiten der intensivmedizinischen Behandlung ihrer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung auf der Intensivstation verantwortlich sind. Der Sachverständige hat hierzu ausgeführt, dass wegen der Behandlung als solcher die Sedierung der Kl. und zeitweilig wegen motorischer Unruhe bis hin zum Delir und der damit verbundenen Eigengefährdung sogar ihre Fixierung notwendig waren. Darüber hinaus litt die Kl. an zahlreichen, einen Dekubitus begünstigenden Vorerkrankungen, wobei es auf die streitige Frage des Vorliegens einer Schlafapnoe nicht ankommt. Sowohl der bei der Kl. unstreitig vorliegende Diabetes mellitus vom Typ 2, der aktenkundige und von der Kl. nicht bestrittene Nikotinabusus sowie ihre Adipositas führten neben der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung mit Hypoxämie zu einer eingeschränkten Haut- und Gewebedurchblutung und -oxigenisierung und damit zugleich zu einem erhöhten Dekubitusrisiko.“

Bei dieser Sachlage sei es gerechtfertigt, die Risiken und Gefahren, die aus der Behandlung resultieren, hinsichtlich der Beweislast der Patientensphäre zuzurechnen. Welche Fälle freilich bei regelmäßig multimorbiden Patienten verbleiben sollen, in denen – und weshalb – von voller Beherrschbarkeit ausgegangen können werden soll, deutet das OLG freilich nicht einmal an.

 

 

Mehr aus diesem Rechtsgebiet lesen

31.10.2022

Informationen

OLG Dresden
Urteil/Beschluss vom 30.11.2021
Aktenzeichen: 4 U 1764/21

Fachlich verantwortlich

Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

Seminare im Fokus

Unten finden Sie eine Auswahl von Fortbildungen zum Rechtsgebiet Medizinrecht. 

Alle Onlineseminare zu Medizinrecht finden Sie hier

ARBER-Info

Aktuelle Entwicklungen und Rechtsprechung

FAQ

Fragen und Antworten