Armin Preussler FA f. Bau- u. ArchitektenR und VergR

Unzumutbarkeit einer kaufmännisch vernünftigen Kalkulation

Unzumutbar ist eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation, wenn Preis- und Kalkulationsrisiken über das Maß, das Bietern typischerweise obliegt, hinausgehen und damit den Bieter unangemessen belasten. Mit diesem aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des § 97 Abs. 1 Satz 2 GWB herzuleitenden Verbot hat sich der Vergabesenat des OLG Düsseldorf im Beschluss vom 22.12.2021 (Verg 16/21) beschäftigt.

   

Sachverhalt

Die Auftraggeberin und spätere Antragsgegnerin schrieb 2020 einen Auftrag zur Durchführung der Luftrettung an einem bestimmten Standort für den Zeitraum 1. Januar 2021 bis 31. Dezember 2030 EU-weit im Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb aus. Nach der Leistungsbeschreibung sollten der Betrieb des Rettungstransporthubschraubers an der Station auf dem genannten Flugplatz, einschließlich der Gestellung des geeigneten Fluggeräts, der medizinisch-technischen Ausstattung, der geeigneten Piloten und der für den Rettungshubschraubereinsatz erforderlichen Besatzungsmitglieder vergeben werden. Die Luftrettung sollte im Rahmen der Notfallversorgung in der angegebenen Stadt, der weiter angegebenen Städteregion sowie in weiteren Gemeinden, Kreisen und angrenzenden Gebieten in Belgien und den Niederlanden durchgeführt werden. Dabei sollte der Rettungstransporthubschrauber an jedem Tag des Jahres frühestens ab Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang plus 30 Minuten vorgehalten werden. Vor dem Hintergrund von Planungen der nordrhein-westfälischen Landesregierung, einige Rettungshubschrauber für die Primärrettung im 24-Stunden-Betrieb vorzuhalten, war in der Leistungsbeschreibung weiter ausgeführt:

  

"Eine Änderung des Punkt 2.9 des RdErl. d. Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW [...] vorausgesetzt, verpflichtet sich der Auftragnehmer nach entsprechender Aufforderung und Bedarfsdefinition durch den Auftraggeber ein Angebot für eine Ausweitung auf einen 24h-Betrieb zu angemessenen Konditionen vorzulegen. Der Auftraggeber ist berechtigt, aber nicht verpflichtet, das Angebot anzunehmen. Ist das optionale Angebot inhaltlich und preislich erkennbar unangemessen, besteht für den Auftraggeber ein Sonderkündigungsrecht zum bestehenden Vertrag, wenn ohne optionale Beauftragung den Landesvorgaben nicht genügt werden kann. Kalkulatorisch ist jetzt jedoch nur der Tagflugbetrieb zu berücksichtigen."

   

Die spätere Antragstellerin rügte bereits vor dem Teilnahmewettbewerb u.a. die unzumutbare und unverhältnismäßige Option der Erweiterung auf einen 24-Stunden-Betrieb. Sie und die spätere Beigeladene beteiligten sich erfolgreich am Teilnahmewettbewerb und gaben jeweils ein indikatives und nach Verhandlungen mit der Auftraggeberin auch ein finales Angebot ab. Die Auftraggeberin teilte schließlich die Absicht der Zuschlagserteilung auf das Angebot der Beigeladenen mit. Die Antragstellerin hatte jedoch nach Zurückweisung ihrer Rüge durch die Auftraggeberin bereits das Vergabenachprüfungsverfahren eingeleitet. Die Vergabekammer Rheinland wies den Nachprüfungsantrag zurück und die Antragstellerin reichte die sofortige Beschwerde zum OLG Düsseldorf ein.

   

Entscheidung

Der Nachprüfungsantrag ist nur teilweise zulässig. Der Rechtsweg zu den Vergabenachprüfungsinstanzen ist allerdings eröffnet. Der ausgeschriebene Auftrag betrifft keine Dienstleistung im Sinne von § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB. Zwar wird eine Rettungsdienstleistung ausgeschrieben. Die Bereichsausnahme greift jedoch dann nicht, wenn der Auftraggeber - wie hier - den Wettbewerb nicht ausschließlich für gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen, sondern auch für gewerblich tätige Unternehmen eröffnet (OLG Celle, Beschluss vom 25. Juni 2019, 13 Verg 4/19). Die Antragstellerin ist überwiegend antragsbefugt im Sinne von § 160 Abs. 2 GWB. Gemäß § 160 Abs. 2 Satz 1 GWB ist im Nachprüfungsverfahren jedes Unternehmen antragsbefugt, das ein Interesse am Auftrag hat und eine Verletzung in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB durch Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend macht. Dabei ist darzulegen, dass dem Unternehmen durch die behauptete Verletzung der Vergabevorschriften ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht.

  

Der Schaden besteht darin, dass durch den einzelnen beanstandeten Vergaberechtsverstoß die Aussichten des antragstellenden Bieters auf den Zuschlag zumindest verschlechtert worden sein können. Nicht erforderlich ist, dass ein Antragsteller im Sinne einer darzulegenden Kausalität nachweisen kann, dass er bei korrekter Anwendung der Vergabevorschriften den Auftrag erhalten hätte. An die Darlegung des entstandenen oder drohenden Schadens sind deshalb keine sehr hohen Anforderungen zu stellen. Nur wenn eine Verschlechterung der Zuschlagschancen durch den geltend gemachten Vergaberechtsverstoß offensichtlich ausgeschlossen ist, ist der Nachprüfungsantrag mangels Antragsbefugnis unzulässig (Senatsbeschluss vom 10. Februar 2021 - Verg 23/10 -). Unzulässig ist der Nachprüfungsantrag, soweit die Antragstellerin in dem von der Antragsgegnerin in der Leistungsbeschreibung vorbehaltenen Vertragsschlusses über einen 24-Stunden-Betrieb der ausgeschriebenen Luftrettung einen Verstoß gegen § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 GWB erblickt. Zum einen ist die Antragstellerin insoweit nicht in ihren eigenen Rechten im Sinne von § 97 Abs. 6 GWB verletzt ist, weil § 132 GWB die Interessen potentieller Bieter um den optionalen Auftrag schützt. Wenn - wie die Antragstellerin behauptet - eine in den Vergabeunterlagen vorgesehene Option nicht den Anforderungen der Vorschrift genügt und damit für den Bieter nicht erkennbar ist, unter welchen Umständen der Vertrag in welchem Umfang geändert werden kann, sind die Rechte der an dem Erstauftrag interessierten Bieter allenfalls unter dem Gesichtspunkt des Grundsatzes der eindeutigen und erschöpfenden Leistungsbeschreibung (§ 121 Abs. 1 S. 1 GWB) verletzt. Einen solchen Verstoß rügt die Antragstellerin jedoch nicht.

   

Eine Rechtsverletzung der Antragstellerin ist zum anderen deshalb offensichtlich ausgeschlossen, weil es sich bei der beanstandeten Regelung in Ziff. 1.4 der Leistungsbeschreibung nicht um eine Option im Sinne von § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 GWB handelt. Bei einer Option wird einer Vertragspartei das einseitige Recht eingeräumt, einen bestehenden Vertrag durch einseitige Erklärung zu ändern, wobei ein Vertragspartner fest gebunden und der andere Vertragspartner frei ist, die Option auszuüben (BayObLG, Beschluss vom 18. Juni 2022 - Verg 8/02). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Der Auftrag über eine Ausweitung des Leistungsumfangs auf einen 24-Stunden-Betrieb soll nicht durch einseitige Erklärung der Antragsgegnerin zustande kommen, sondern aufgrund eines neuen Vertrags zwischen Parteien, wobei der Auftragnehmer lediglich zur Abgabe eines Angebots verpflichtet sein soll.

   

Soweit zulässig, ist der Nachprüfungsantrag unbegründet. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin durch das Sonderkündigungsrecht im Falle einer gescheiterten Vertragserweiterung auf einen 24-Stunden-Betrieb eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation nicht unzumutbar erschwert. Grundsätzlich werden Vertragsklauseln wie die vorgenannten Regelungen in der ausgeschriebenen Leistungsbeschreibung, die Bestandteil des ausgeschriebenen Auftrags wird, von den Vergabenachprüfungsinstanzen nicht auf ihre zivilrechtliche Wirksamkeit geprüft, da sie keine Bestimmungen über das Vergabeverfahren im Sinne des § 97 Abs. 6 GWB sind. Außerhalb des Vergabeverfahrens und des Anwendungsbereichs vergaberechtlicher Vorschriften liegende Rechtsverstöße können ausnahmsweise nur dann zum Gegenstand eines Vergabenachprüfungsverfahrens gemacht werden, wenn es eine vergaberechtliche Anknüpfungsnorm gibt, die im Nachprüfungsverfahren entscheidungsrelevant ist (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 6. September 2017 - Verg 9/17 -; vom 19. Oktober 2015 - Verg 30/13 -, und vom 13. August 2008 - Verg 42/07 -). Eine solche Anknüpfungsnorm ist hier das aus dem Rechtsgedanken von Treu und Glauben und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 97 Abs. 1 S. 2 GWB) herzuleitende Verbot der Unzumutbarkeit einer für den Bieter oder Auftragnehmer kaufmännisch vernünftigen Kalkulation (Senatsbeschlüsse vom 21. April 2021 - Verg 1/20, und vom 21. Dezember 2020 - Verg 36/20; OLG Koblenz, VergabeR 2013, 229, 232; OLG Schleswig, VergabeR 2013, 395 Rn. 57). Unzumutbar ist eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation, wenn Preis- und Kalkulationsrisiken über das Maß, das Bietern typischerweise obliegt, hinausgehen und damit den Bieter entgegen dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB), der auch im Vergaberecht und im Stadium der Vertragsanbahnung Anwendung findet, unangemessen belasten. Ob eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation gemessen an diesen Maßstäben unzumutbar ist, bestimmt sich nach dem Ergebnis einer Abwägung aller Interessen der Bieter bzw. Auftragnehmer und des öffentlichen Auftraggebers im Einzelfall (Senatsbeschlüsse vom 21. April 2021 - Verg 1/20, und vom 7. September 2003 - Verg 26/03). Ausgehend von diesen Grundsätzen kann von einer unzumutbaren Kalkulation im Streitfall keine Rede sein.  Die Antragstellerin konnte sich bei ihrer Angebotskalkulation ohne Weiteres auf eine mögliche Erweiterung des Flugbetriebs einstellen. Da bei der Angebotserstellung nach der eindeutigen Vorgabe der Leistungsbeschreibung "kalkulatorisch" ausschließlich der Tagflugbetrieb zu berücksichtigen war und eine mögliche Ausweitung des Flugbetriebs erst im Rahmen des noch zu erstellenden Vertragsangebots, musste die Antragstellerin bei der Einsatzplanung für die Hubschrauber und das Personal eine mögliche Erweiterung des Flugbetriebs in ihrem Angebot noch nicht einkalkulieren. Nichts Anderes gilt für die Kalkulation der zu stellenden Luftfahrzeuge. Dass diese einem 24-Stunden-Betrieb genügen mussten, hatte die Antragstellerin ungeachtet einer etwaigen Erweiterung des Auftrags ohnehin zu berücksichtigen, da die Rettungshubschrauber und Ersatzmaschinen während der gesamten Vertragslaufzeit auch ohne die ins Auge gefasste Erweiterung des Flugbetriebs auf einen uneingeschränkten Nachtflugbetrieb umrüstbar sein oder durch ein anderes Modell mit gleichen Anforderungen ersetzt werden können mussten.

  

Das Sonderkündigungsrecht der Antragsgegnerin macht der Antragstellerin eine Kalkulation des Angebots ebenfalls nicht unzumutbar. Zwar droht dem Auftragnehmer theoretisch der Verlust des Auftrags, wenn die Antragsgegnerin ihr Sonderkündigungsrecht ausübt. Das Risiko einer vorzeitigen Vertragsbeendigung aus wichtigem Grund trifft jedoch jeden Vertragspartner und kann ohne Weiteres kalkuliert werden. Die Antragstellerin trägt im Übrigen nicht vor, wie hoch sie das Risiko einschätzt, dass die Landesregierung die rechtlichen Rahmenbedingungen des Rettungsflugbetriebs ändern, die Antragsgegnerin daraufhin die Antragstellerin als künftige Auftragnehmerin zur Abgabe eines Angebots für eine Ausweitung des Flugbetriebs auf einen 24-Stunden-Betrieb auffordern, die Antragstellerin ein inhaltlich und preislich erkennbar unangemessenes Angebot abgeben und die Antragsgegnerin von ihrem Sonderkündigungsrecht Gebrauch machen wird. Hinzukommt, dass der Antragstellerin als Auftragnehmerin die Möglichkeit verbleibt, die Wirksamkeit einer auf das Sonderkündigungsrecht gestützten Vertragsbeendigung gerichtlich überprüfen zu lassen und auch dieses Risiko der Inanspruchnahme von Rechtsschutz abzuschätzen.

Fazit

Die Einzelfalleinschätzung, die das OLG hier vorgenommen hat, lässt sich sinnvollerweise nicht kommentieren. Wünschenswert wäre allerdings, zu erfahren, warum das OLG hier die Kalkulierbarkeit nicht nur der ausgeschriebenen Leistungen, sondern auch der möglichen Zusatzleistungen angenommen hat. Diese Entscheidung aber beschäftigt sich abseits der Geltung des § 7 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 VOB/A bei Bauleistungsvergaben mit der Frage, wann bei der Dienstleistungsvergabe ein dem Verbot der Überbürdung eines ungewöhnlichen Wagnisses ähnlicher Rechtsgedanke zum Einsatz kommt, nach Auffassung des OLG Düsseldorf also bei der Unzumutbarkeit einer kaufmännisch vernünftigen Kalkulation. Überdies bekräftigt diese Entscheidung den Grundsatz, dass Vertragsklauseln in der ausgeschriebenen Leistungsbeschreibung von den Vergabenachprüfungsinstanzen nicht auf ihre zivilrechtliche Wirksamkeit hin geprüft werden, da sie keine Bestimmungen über das Vergabeverfahren im Sinne des § 97 Abs. 6 GWB sind.

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27.02.2023

Informationen

OLG Düsseldorf
Urteil/Beschluss vom 22.12.2021
Aktenzeichen: Verg 16/21

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