Armin Preussler FA f. Bau- u. ArchitektenR und VergR

Vergabe trotz Zuschlagssperre

Dringliche und zwingende Gründe für eine Dringlichkeitsvergabe kommen grundsätzlich nur bei akuten Gefahrensituationen und höherer Gewalt in Betracht, die zur Vermeidung von Gefahren und Schäden für Leib und Leben ein sofortiges, die Einhaltung von Fristen ausschließendes Handeln erfordern. Eine besondere Dringlichkeit kann für einen kurzen Übergangszeitraum aber selbst dann gegeben sein, wenn sie aus der Sphäre des Auftraggebers stammen. Mit den Voraussetzungen für eine Anwendung des § 169 Abs. 2 GWB beschäftigte sich die VK Südbayern in ihrem Beschluss vom 26.09.2022 (3194.Z3-3_01-22-48).

 

Sachverhalt

Der Auftraggeber schrieb im offenen Verfahren europaweit Bewachungsdienstleistungen für Aufnahmeeinrichtungen für die vorüberbringende Unterbringung Asylbegehrender gem. §§ 44 ff. AsylG mit dem alleinigen Zuschlagskriterium des günstigsten Preises aus. U.a. die spätere Antragstellerin als Bestandsdienstleisterin und die spätere Beigeladene gaben Angebote ab. Mit der Bieterinformation nach § 134 GWB informierte der Auftraggeberin die spätere Antragstellerin über seine Absicht, dem Angebot der Beilgeladenen den Zuschlag zu erteilen und führte zu den Gründen der Nichtberücksichtigung des Angebots der Antragstellerin aus, dass deren Preis in der Bieterrangfolge – ohne Berücksichtigung von Angebotsausschlüssen anderer Bieter – lediglich Platz 15 belege. Die Antragstellerin rügte die Bieterinformation als ungenügend und vermutete einen ungewöhnlich niedrigen Preis bei der Beigeladenen, weil diese aus einem anderen Bundesland stammend vermutlich nicht nach dem in Bayern geltenden Tarifvertrag kalkuliert habe.

 

Der Auftraggeber half den Rügen nicht ab, stellte aber klar, dass das Angebot der Antragstellerin unter Berücksichtigung von Angebotsausschlüssen anderer Bieter Rang 12 belege und dass er die Einhaltung der Tariflöhne im Angebot der Beigeladenen habe prüfen und bestätigen können. Daraufhin leitete die Antragstellerin ein erstes Nachprüfungsverfahren vor der VK Südbayern ein.

Nachdem die Vergabekammer sich die Entscheidungsfrist nach § 167 Abs. 1 Satz 2 GWB um rund drei Monate verlängert hatte, teilte der Auftraggeber der Antragstellerin auf deren Nachfrage zur gegenwärtigen Leistungserbringung der Bewachungsdienstleistungen mit, dass er derzeit ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb mit vergaberechtskonform ausgewählten Bietern durchführe. Die gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV erforderlichen äußerst dringlichen zwingenden Gründe seien gegeben, zumal der Bereich der Daseinsvorsorge berührt sei. Ausweislich der Vergabedokumentation habe der Vertrag eine Laufzeit von vier Monaten und verlängere sich um jeweils einen Monat, jedoch längstens bis auf ein Jahr, wenn er nicht mit einer Frist von einem Monat vor Ablauf des Verlängerungszeitraums in Textform gekündigt werde. Daraufhin leitete die Antragstellerin ein zweites Nachprüfungsverfahren gegen die beabsichtigte Durchführung der Interimsbeauftragung im Wege eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb ein. Sie rügte, am Verhandlungsverfahren nicht beteiligt worden zu sein und dass der Auftraggeber die behauptete besondere Dringlichkeit selbst verschuldet habe.

 

Der Auftraggeber als Antragsgegner beantragte im zweiten Nachprüfungsverfahren die Vorabgestattung des Zuschlags im Wege der Interimsvergabe durch das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach § 169 Abs. 2 GWB.

 

Entscheidung

Dem Antrag des Antragsgegners nach § 169 Abs. 2 GWB auf vorzeitige Gestattung des Zuschlags kann nicht stattgegeben werden. Die Abwägung der Interessen der Beteiligten gibt keine Rechtfertigung für die Gestattung der Erteilung des Zuschlags vor Abschluss des Nachprüfungsverfahrens, da die nachteiligen Folgen einer Verzögerung der Vergabe bis zum Abschluss des Nachprüfungsverfahrens die damit verbundenen Vorteile nicht überwiegen. Entscheidend gegen die Zuschlagsgestattung spricht im vorliegenden Fall, dass die Ausgestaltung des Interimsauftrags mit einer potentiellen Laufzeit von bis zu einem Jahr dem Ausnahmecharakter einer vorzeitigen Zuschlagsgestattung nur schwer gerecht wird und anders als im ersten Nachprüfungsverfahren der Nachprüfungsantrag in streitgegenständlichem Verfahren keineswegs aussichtslos ist. Anträgen nach § 169 Abs. 2 Satz 1 GWB kann allenfalls in ganz außergewöhnlichen Situationen stattgegeben werden. Kann der Antragsgegner gravierende Nachteile des verzögerten Zuschlags auf andere Weise vermeiden, muss er dies vorrangig tun, z.B. durch eine Interimsvergabe die Maßnahmen der Daseinsvorsorge sicherzustellen. Allerdings ist es erforderlich, dass die Interimsmaßnahmen auch auf das erforderliche Maß begrenzt sind, um dem Ausnahmecharakter einer vorzeitigen Zuschlagsgestattung gerecht zu werden.

 

Interimsmaßnahmen, die nach Art und Umfang einer Ersatzbeschaffung gleichkommen oder einen nicht unerheblichen Teil der planmäßig zu vergebenden Leistung vorwegnehmen, können nicht mehr als vorläufige Maßnahme im Sinne der Rechtsmittelrichtlinie verstanden werden. Vorliegend entspricht jedoch bei im Wesentlichen identischem Leistungsinhalt die Maximallaufzeit des Interimsauftrags der Mindestlaufzeit des planmäßigen Auftrags. Im Falle einer Zuschlagsgestattung bestünde damit (zumindest theoretisch) die Möglichkeit, dass ein nicht unerheblicher Teil der planmäßigen Leistung durch den Interimsauftrag substituiert wird, zumal dessen Laufzeit auch nicht an den Fortgang des (Hauptsache-) Nachprüfungsverfahrens geknüpft wurde, zu dessen zeitlicher Überbrückung die Interimsbeauftragung gedacht ist. Eine derartige Ausgestaltung wird dem Ausnahmecharakter der vorzeitigen Zuschlagsgestattung nicht gerecht. Die Erfolgsaussichten dieses Nachprüfungsantrags sind nicht aussichtslos. Die Antragstellerin hat als Bestandsauftragnehmerin ein nachvollziehbares Interesse am Erhalt des Auftrags und dieses auch dargelegt.

 

Durch die Entscheidung des Antragsgegners, die Antragstellerin nicht zur Angebotsabgabe im Verhandlungsverfahren aufzufordern, wurde ihr die Chance genommen, sich mit einem möglicherweise aussichtsreichen Angebot am Vergabeverfahren zu beteiligen.

 

Im Hinblick auf die Begründetheit des Nachprüfungsantrags ist fraglich, ob die Voraussetzungen einer Dringlichkeitsvergabe vorliegen. Bei § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV handelt es sich um eine Ausnahmevorschrift, die eng auszulegen ist (vgl. VK Südbayern, Beschluss vom 21.10.2020 - 3194.Z3-3_01-20-31).

 

Dringliche und zwingende Gründe kommen grundsätzlich nur bei akuten Gefahrensituationen und höherer Gewalt in Betracht, die zur Vermeidung von Gefahren und Schäden für Leib und Leben ein sofortiges, die Einhaltung von Fristen ausschließendes Handeln erfordern (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.12.2019 - Verg 18/19 m.w.N.). Unvorhersehbar sind Ereignisse, mit denen auch bei Anlegung eines hohen objektiven Sorgfaltsmaßstabs nicht gerechnet werden konnte (Ziekow/Völlink/Völlink, 4. Aufl. 2020, VgV § 14 Rn. 60).

 

Zwar ist anerkannt, dass die Notwendigkeit einer Leistung im Bereich der Daseinsvorsorge, wo der Grundsatz der Kontinuität der Leistung eine nahtlose Weiterführung gegenüber den Nutzern erfordert, einen äußerst dringlichen, zwingenden Grund i.S.v. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV bilden kann. Dabei kann eine besondere Dringlichkeit für einen kurzen Übergangszeitraum selbst dann gegeben sein, wenn die Gründe für die Dringlichkeit in der Sphäre des Auftraggebers liegen (vgl. VK Südbayern, Beschluss vom 12.08.2016 - Z3-3-3194-1-27-07-16). Jedoch bleibt zu beachten, dass im Hinblick auf den Wettbewerbsgrundsatz auch im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb regelmäßig mehrere Bieter beteiligt werden müssen (BayObLG, Beschluss vom 20.01.2022 - Verg 7/21).

 

Ob vorliegend ausreichend Wettbewerb stattgefunden hat, wird im Rahmen der Hauptsacheentscheidung des hiesigen Nachprüfungsverfahrens zu klären sein. Dagegen spricht, dass nach der Rechtsprechung (OLG Hamburg, Beschluss vom 08.07.2008 - 1 Verg 1/08; OLG Dresden, Beschluss vom 25.01.2008 - WVerg 10/07) grundsätzlich auch diejenigen Unternehmen an dem Verfahren zur Vergabe der Interimsaufträge zu beteiligen sind, die sich an einem vorangegangenen Vergabe- und Nachprüfungsverfahren beteiligt hatten (ebenso Ziekow/Völlink/Antweiler, 4. Aufl. 2020, GWB § 119 Rn. 25 m.w.N.).

 

Auch erscheint die Annahme des Antragsgegners, dass eine Beteiligung der Antragstellerin wegen ihres preislich abgeschlagenen Angebots in Bezug auf die regulär zu vergebende Leistung nicht geboten gewesen sei, als wenig tragfähig, da es sich bei der Antragstellerin um die Bestandsauftragnehmerin handelt, die insbesondere im Hinblick auf einen kurzfristigen Interimsauftrag möglicherweise nicht geringe Wettbewerbsvorteile für sich beanspruchen kann. Für ausreichend Wettbewerb im vorliegenden Fall spricht allerdings, dass der Antragsgegner immerhin die vier im offenen Verfahren nach der Angebotsprüfung aussichtsreichsten Bewerber zur Abgabe eines Angebots für den Interimsauftrag aufgefordert hat und es nach der jüngeren Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichts bei Vorliegen einer äußersten Dringlichkeit gerechtfertigt sein kann, dass nicht alle in Betracht kommenden Unternehmen an einem Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb beteiligt werden (vgl. BayObLG, aaO). Auf Seiten des Antragsgegners ist neben seinem eigenen Interesse an einem zügigen Abschluss des Vergabeverfahrens auch ein besonderes Interesse der Allgemeinheit an der zügigen Beauftragung im Hinblick auf den Verfahrensgegenstand zu bejahen.

 

Im Ergebnis führt eine Abwägung des besonderen Beschleunigungsinteresses des Auftraggebers und der Allgemeinheit mit dem Interesse der Antragstellerin an Aufrechterhaltung des Zuschlagsverbots nicht dazu, dass die nachteiligen Folgen einer Verzögerung der Vergabe bis zum Abschluss der Nachprüfung die damit verbundenen Vorteile überwiegen. Denn dies setzt eine Gefährdung gewichtiger öffentlicher Interessen voraus, die nicht durch mögliche Interimsmaßnahmen abzuwenden sind. Der Antragsgegner hat zwar dargelegt, dass eine temporäre Übernahme der Aufgaben des Bewachungsdienstleisters durch eigenes Personal nicht zu stemmen ist. Gleichwohl bleibt eine Wiederholung der Interimsvergabe unter Beteiligung der Antragstellerin möglich. Dass einer Beteiligung der Bestandsauftragnehmerin an der Vergabe der Interimsleistungen (rechtliche) Hindernisse entgegenstehen, hat der Antragsgegner nicht vorgebracht.

Fazit

Der Antrag des Auftraggebers nach § 169 Abs. 2 GWB auf Erteilung des Zuschlags an die Beigeladene während des laufenden (zweiten) Nachprüfungsverfahrens wurde zurückgewiesen. Dies erfolgte in einem Zwischenverfahren durch Abwägung der genannten beiderseitigen Interessen. Im eigentlichen (zweiten) Nachprüfungsverfahren ging es um die Frage, ob der Auftraggeber die Antragstellerin bei der Interimsvergabe durch ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb mit einem Angebot zulassen muss. Im ersten Nachprüfungsverfahren ging es dagegen allein um die Angebotswertung des Auftraggebers, zu der die Vergabekammer der Antragstellerin bereits den Hinweis erteilt hatte, dass sie als Zwölftplatzierte kaum eine Chance auf Erhalt des Zuschlags habe und daher im (ersten) Nachprüfungsverfahren erfolglos bleibe.

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12.07.2023

Informationen

VK Südbayern
Urteil/Beschluss vom 26.09.2022
Aktenzeichen: 3194.Z3-3_01-22-48

Fachlich verantwortlich

Armin Preussler FA f. Bau- u. ArchitektenR und VergR

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