Von besonderer Bedeutung für die Ermittlung des medizinischen Standards sind seit jeher S3-Leitlinien. Die Behandlung kritisch auch in ihrem Licht zu betrachten, gleichfalls kritisch aber auch die Leitlinie selbst, spielte im folgenden Fall eine zentrale Rolle.
Der Fall:
Die Kl. behauptet, der Bekl. habe die gebotene Diagnostik, insbesondere eine Stuhlprobe und eine Röntgenuntersuchung im Stehen, unterlassen. Folge der unterlassenen Befunderhebung sei eine Behandlungsverzögerung von zwei bzw. drei Jahren mit anhaltenden Magen-, Bauch- und Darmschmerzen und entsperechenden Beschwerden.
Das LG wies die Klage ab, da die vom Bekl. durchgeführte Diagnostik in Anbetracht der erhobenen Befunde dem gebotenen (§ 630a Abs. 2 BGB) fachärztlichen Standard entsprochen habe. Die mikrobiologische Untersuchung einer Stuhlprobe sei nicht geboten gewesen und hätte im Übrigen an den klägerischen Beschwerden nichts geändert. Dabei setzte es sich eingehend auch mit einer einschlägigen S3-Leitlinie („Reizdarmsyndrom“), die keine andere Betrachtung rechtfertige.
Die Entscheidung des Gerichts:
„Zum einen beschreiben Leitlinien nicht zwingend den Facharztstandard. Leitlinien von ärztlichen Fachgremien können den Standard zutreffend beschreiben, aber auch – insbesondere wenn sie veraltet sind – hinter diesem zurückbleiben […], oder – z.B. wenn sie in den Fachkreisen umstritten sind – über ihm liegen […]. So soll […] die in den Leitlinien der geburtshilflichen Fachgesellschaften vorgesehene Zeit von maximal 20 Minuten für die Spanne von der notwendigen Entschließung zur notfallmäßigen Entbindung durch Kaiserschnitt bis zur Entwicklung des Kindes noch kein ‚unumstößlicher, allseits anwendbarer Standard‘ gewesen sein, weil dieses Intervall ‚bei einer sehr erheblichen Zahl von Kaiserschnitten besonders in Belegkliniken oder kleineren Chefarztkliniken nicht erreicht‘ werde […].
Für den vorliegenden Fall hat der Sachverständige für die - bei der Kl. während der streitgegenständlichen Behandlung vorliegende - Obstipationssituation (und für welche es wiederum in der Leitlinie zum Reizdarmsyndrom keine spezifische Empfehlung gibt) klar mitgeteilt, dass es alltägliche Praxis sei, auf eine Stuhluntersuchung zu verzichten. Diese verspreche keinen relevanten Erkenntnisgewinn und die ÖGD sei zudem gleichwertig […]. Allein auf diese anerkannte und gelebte Praxis kommt es an, denn der haftungsrechtlich geschuldete Standard eines berufserfahrenen Facharztes ist das zum Behandlungszeitpunkt in der ärztlichen Praxis und Erfahrung bewährte, nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis gesicherte, von einem durchschnittlichen Facharzt verlangte Maß an Kenntnis und Können […], nicht aber die strikte Befolgung von Leitlinien.
bb) Hinzu kommt, dass die klageseits zitierte S3-Leitlinie „Reizdarmsyndrom: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie“ (AWMF-Registriernummer: 021/016) von Juni 2021 stammt und die Kl. schon nicht einmal geltend macht, dass insoweit dieselben Anforderungen schon vor Juni 2021 in Leitlinien aufgestellt worden waren.
cc) Zuletzt ergibt sich nicht einmal auf Grundlage der aktuellen - also heutigen bzw. nach Juni 2021 gültigen - Leitlinien, dass in einer Behandlungssituation, wie der streitgegenständlichen, eine Stuhluntersuchung gefordert gewesen wäre. Die Anwendbarkeit der Leitlinie setzt neben anhaltenden Beschwerden, die sowohl Patient als auch Arzt auf den Darm beziehen, Stuhlveränderungen und damit verbundenen Beeinträchtigungen der Lebensqualität des Patienten auch das Nichtvorliegen von anderen charakteristischen Veränderungen voraus, die wahrscheinlich für die Symptome verantwortlich sind. Im vorliegenden Fall war der Obstipationstyp eines Reizdarmsyndroms von dem Krankheitsbild einer chronischen Obstipation abzugrenzen, für welches die Leitlinie zur chronischen Obstipation einschlägig ist. Zwar wird in der Leitlinie zur chronischen Obstipation wiederum auf die Leitlinie Reizdarmsyndrom verwiesen; jedoch ist bei richtiger Interpretation diese Verweisung gerade nicht einschlägig, soweit auf Seite 1348 in Tabelle 3.3 der Leitlinie zum Reizdarmsyndrom eine Stuhluntersuchung auf Erreger - u. a. explizit Lamblien - gefordert wird, denn gerade eine (nicht auf einem Ileus beruhende) Obstipationssituation kann nicht auf pathogenen Keimen beruhen, auf deren Nachweis eine Stuhluntersuchung abzielt. Die Leitlinie Reizdarmsyndrom empfiehlt zudem pauschal eine Stuhluntersuchung, ohne näher nach Unterkategorie zu differenzieren; auch dies eröffnet den Spielraum, für den Obstipationstyp eines Reizdarmsyndroms auf die Stuhluntersuchung zu verzichten, denn in diesem Fall verspricht sie keinen relevanten Erkenntnisgewinn […].“
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