Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

Arzthaftungsprozessrecht - 1. Verzögerung durch Sachverständigengutachten?

Immer wieder zu Streit führt die Notwendigkeit nicht nur eines ersten, sondern v.a. eines zweiten, eines dritten usw. Sachverständigengutachtens. Im Grundsatz stets nach denselben Maßstäben zu messen, zeigt sich v.a. jedoch beim ersten Gutachten, dass den Gerichten eine Anwendung der Präklusionsvorschriften regelmäßig verwehrt ist.

 

Der Fall:

Die Klägerin begehrt Schadensersatz materieller und immaterieller Art sowie die Feststellung der Einstandspflicht des Beklagten für weitere Schäden aus einer zahnärztlichen Behandlung im Zeitraum August 2013 bis April 2018. Die Klägerin hat in erster Instanz behauptet, aufgrund einer mangelhaften Zahnversorgung über 3 Jahre lang unter starken Schmerzen im Bereich der Implantatversorgung gelitten zu haben; sie habe einen Druckschmerz als auch einen Kieferschmerz im Ober- und Unterkiefer gehabt. Während der bis 2018 andauernden Nachbehandlungen habe sie Schmerzen erdulden müssen. Die Nachbehandlungstermine seien bei einer ordnungsgemäßen Implantatversorgung nicht notwendig gewesen.

 

Das Landgericht hat im schriftlichen Vorverfahren am gegen den Beklagten Versäumnisurteil erlassen und diesen zur Zahlung von materiellem und immateriellem Schadensersatz verurteilt und auch dem Feststellungsantrag entsprochen. Gegen das am 18.03.2021 zugestellte Versäumnisurteil hat der Beklagte am 23.03.2021 form- und fristgerecht Einspruch eingelegt. Nach Übertragung des Verfahrens auf den Einzelrichter mit Beschluss vom 14.04.2021 hat dieser mit Terminsverfügung vom 15.04.2021, die dem Beklagtenvertreter am 19.04.2021 zugestellt worden ist, darauf hingewiesen, dass keine Einspruchsbegründung eingegangen und deswegen unverzüglich Termin zu bestimmen sei; der Einspruchstermin wurde auf den 03.05.2021 bestimmt. Die Einspruchsbegründung vom 14.04.2021 ging beim Landgericht am 19.04.2021 ein.

 

Das Landgericht hat mit Endurteil vom 03.06.2021 das Versäumnisurteil aufrechterhalten. Der Beklagtenvortrag im Schriftsatz vom 14.04.2021 enthalte zwar ein erhebliches Bestreiten. Jedoch sei der Vortrag gemäß §§ 340 Abs. 3, 296 Abs. 1 ZPO nicht zu berücksichtigen. Der Beklagte habe die erhebliche Fristüberschreitung nicht hinreichend entschuldigt. Soweit im Termin vorgetragen worden sei, dass im März zwischen den Parteien Gespräche in Bezug auf eine Klagerücknahme gelaufen seien, habe dies der Klägervertreter verneint. Im Übrigen hätte der Beklagte die Frist zur Einspruchsbegründung verlängern lassen können. Würde der Vortrag des Beklagten berücksichtigt werden, hätte dies eine erhebliche Verzögerung des Verfahrensabschlusses zur Folge, weil ein Sachverständigengutachten einzuholen gewesen wäre.

 

Die Entscheidung des Gerichts:

Auf die hiergegen gerichtete Berufung hat das OLG das Urteil des Landgerichts aufgehoben und die Sachen dorthin zurückverwiesen.

Das Landgericht habe die Präklusionsvorschriften fehlerhaft angewandt und deswegen das erstinstanzliche Vorbringen des Beklagten unberücksichtigt gelassen. Damit habe es den Anspruch des Beklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Zu dem von der Klägerin gerügten Behandlungsfehler sei eine Beweisaufnahme durch Einholung eines zahnmedizinischen Sachverständigengutachtens erforderlich, die sich im Sinne des § 538 Abs. 2, S. 1 Nr. 1 ZPO umfangreich und aufwendig gestalten werde.

 

Zutreffend sei zwar, dass § 296 Abs. 1, 4 ZPO anzuwenden sei. Werde die Einspruchsbegründung nicht binnen der Einspruchsfrist beigebracht, habe dies die Wirkung, wie wenn eine Klageerwiderung nicht binnen gesetzter Klageerwiderungsfrist (§§ 276, 275 ZPO) eingehe. Dabei spiele jedoch die zeitliche Ansetzung des Einspruchstermins (§ 341a ZPO) eine gewichtige Rolle, da dieser nach § 273 ZPO sachgerecht vorzubereiten sei.

 

Insoweit setze § 296 Abs. 1 ZPO zweierlei voraus:

Erstens müssten Angriffs- und Verteidigungsmittel erst nach Ablauf der hierfür gesetzten Frist vorgebracht werden, zweitens müsse sich der Rechtsstreit bei Zulassung des verspäteten Vorbringens aber auch verzögern und die Verzögerung nicht genügend entschuldigt sein.

 

Daran fehle es: „Zentrales Kriterium des § 296 Abs. 1 ZPO ist vorliegend damit der Verzögerungsbegriff. Welche inhaltlichen Anforderungen an diesen zu stellen sind, ist seit langem umstritten. Die Rechtsprechung, allen voran der Bundesgerichtshof […] sowie auch die herrschende Meinung in der Literatur […] folgten mit ausdrücklicher Billigung des Bundesverfassungsgerichts […] dem absoluten Verzögerungsbegriff. Danach sei allein entscheidend, ob der Rechtsstreit bei Berücksichtigung des verspäteten Vorbringens länger dauern würde als bei dessen Zurückweisung.“ Demgegenüber sei ein Vergleich zwischen zu erwartender Verfahrensdauer bei Zulassung des nachträglichen Vorbringens und hypothetischem Verfahrensablauf bei unterstellt rechtzeitigem Vorbringen (relativer Verzögerungsbegriff) nicht anzustellen.

 

Etwas anderes gelte jedoch mit Blick auf das Verbot der Überbeschleunigung:

„So hat der Bundesgerichtshof […] ausgeführt, dass die Zulässigkeit einer Präklusion mit Blick auf den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs verfassungsrechtlich allerdings dann bedenklich ist, wenn sich ohne weitere Erwägungen aufdrängt, dass dieselbe Verzögerung auch bei rechtzeitigem Vorbringen eingetreten wäre […]. Einerseits kann es nicht Sinn der der Beschleunigung dienenden Präklusionsvorschriften sein, das Gericht mit schwierigen Prognosen über hypothetische Kausalverläufe zu belasten und damit weitere Verzögerungen zu bewirken. Diese Vorschriften dürfen aber andererseits auch nicht dazu benutzt werden, verspätetes Vorbringen auszuschließen, wenn ohne jeden Aufwand erkennbar ist, dass die Pflichtwidrigkeit - die Verspätung – allein nicht kausal für eine Verzögerung ist. In diesen Fällen ist die Präklusion rechtsmissbräuchlich. Denn sie dient erkennbar nicht dem mit ihr verfolgten Zweck. […] Durch die Vorschriften über die Zurückweisung verspäteten Vorbringens soll […] nicht die prozessuale Nachlässigkeit einer Partei als solche sanktioniert werden, und schon gar nicht soll die Anwendung dieser Vorschriften dem Gericht die Mühe einer der Sache nach gebotenen sorgfältigen Sachverhaltsaufklärung ersparen.“

 

Gerade in Fällen, in denen ein Sachverständigengutachten eingeholt werden müsste, stelle sich deshalb folgerichtig die Frage, ob dieselbe Verzögerung - offenkundig - nicht auch bei rechtzeitigem Vorbringen eingetreten wäre und einer Zurückweisung des neuen Vorbringens das verfassungsmäßige Verbot einer Überbeschleunigung entgegensteht. So liege der Fall hier. Selbst bei rechtzeitiger Begründung wäre die Sache im Einspruchstermin am 03.05.2021 nicht entscheidungsreif gewesen, weil es eines Sachverständigengutachtens bedürfe.

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04.05.2023

Informationen

OLG Jena
Urteil/Beschluss vom 23.08.2022
Aktenzeichen: 7 U 589/21

Fachlich verantwortlich

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