Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

Arzthaftungsprozessrecht - 2. Beschleunigung durch selbständigen Beweistermin nach § 485 ZPO im Hauptverfahren?

Verzögert sich das Hauptverfahren, kann (ausnahmsweise) auch ein innerhalb dessen ein selbständiges Beweisverfahren in Betracht kommen. Zur bloßen Verfahrensbeschleunigung ist es jedoch regelmäßig jedenfalls dann ungeeignet, wenn es sich in der Sache von der Beweisaufnahme im Hauptverfahren – wie der folgende Fall zeigt – nicht unterscheidet, sondern allein auf ungeeignete Beweismaßnahmen abzielt wie im vorliegenden Fall die Inaugenscheinnahme des Klägers und seiner Beschwerden im Gerichtssaal.

 

Der Fall:

Der Kläger begehrt die Feststellung einer Ersatzpflicht der Beklagten für ihm entstandene materielle sowie immaterielle Schäden im Zusammenhang mit einer Behandlung des Klägers im Hause der Beklagten zu 1 im August 2014 und wirft den behandelnden Ärzten Behandlungsfehler vor. Seine gegenwärtige körperliche Verfassung sei dadurch gekennzeichnet, dass er unter einer inkompletten Querschnittslähmung vom fünften Halswirbel bis zum ersten Brustwirbel leide, womit eine unterschiedlich starke Lähmung seiner vier Extremitäten einhergehe, eine Blasenentleerungsstörung, die schlaffe Lähmung beider Hände, zwei funktionslose Daumen, das Unvermögen, ohne Hilfe zu laufen, Spastiken in beiden Beinen und Füßen sowie mit Ausnahme der Arme ein fehlendes Schmerz- und Temperaturgefühl am gesamten Körper.

 

Das Landgericht hat mit Beschluss vom 31.01.2018 Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Das Gutachten zur Frage des Vorliegens von Behandlungsfehlern wurde unter dem 29.07.2019 erstattet. Derzeit ist Termin in der Hauptsache auf den 21.06.2023 bestimmt. Mit Schriftsatz vom 20.09.2022 hat der Kläger gemäß § 485 Abs. 1 ZPO beantragt, ihn im Gerichtssaal oder bei sich zu Hause in Augenschein zu nehmen mit der Begründung, dass er unter den Folgen des Vorfalles vom 04.08.2014 physisch und psychisch stark leide, das heißt die Gefahr seines Ablebens bestehe, und er seine nach dem 04.08.2014 sukzessiv aufgebaute Mobilität trotz konsequenter ergo- und physiotherapeutischer Behandlungen verliere und sich somit durch die (Nicht-) Behandlung der Beklagten die (un-)mittelbar erlittenen Gesundheitsverletzungen (z.B. wegen Immobilität) nicht mehr besichtigen ließen.

 

Die Entscheidung des Gerichts:

Das OLG hat die Zurückweisung des Beweisantrags durch das Landgericht aufrechterhalten, wobei es sich entscheidend davon leiten ließ, dass die allein beantragte Inaugenscheinnahme zu Beweiszwecken gänzlich ungeeignet sei:

 

„Der Kläger hat ausdrücklich hervorgehoben, dass hinsichtlich der Feststellungen zu seinem Gesundheitszustand nicht die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt wird, sondern ausschließlich die richterliche Inaugenscheinnahme im Sinne von § 371 ZPO. Diese erweist sich jedoch als gänzlich ungeeignet, die vom Kläger begehrten Feststellungen zu seinem Gesundheitszustand zu treffen. Augenschein ist jede eigene und gegenständliche Wahrnehmung des Gerichts zu beweiserheblichen und streitigen Tatsachen über die Beschaffenheit von Sachen und im Einzelfall auch von Personen, letzteres z.B. zur Ansicht einer Narbe und deren Länge […]. Für eine solche Feststellung bedarf es grundsätzlich keiner tiefer gehenden medizinischen Kenntnisse. Die vom Kläger begehrte gerichtliche Sinneswahrnehmung geht jedoch weit über dahingehende, ohne besonderen Sachverstand zu treffende Feststellungen hinaus. Nahezu sämtliche vom Kläger dargestellten Beeinträchtigungen lassen sich nur im Anschluss an eine umfängliche medizinische Untersuchung mit entsprechendem Sachverstand treffen und in keiner Weise durch eine bloße Inaugenscheinnahme durch das Gericht und schon gar nicht im Rahmen einer öffentlichen Gerichtsverhandlung.“

 

Zwar könne sich das Gericht gemäß § 372 Abs. 1 ZPO auch eines sogenannten Augenscheinsgehilfen, wie beispielsweise eines Sachverständigen, bedienen. Dieser berichte dann grundsätzlich aber nur von Tatsachen, die das Gericht nicht anders hätte wahrnehmen können, wenn es selbst das Augenscheinsobjekt einer näheren Betrachtung unterzogen hätte. Komm es aber - wie hier - auf die besondere Sachkunde an, um die entsprechenden Feststellungen treffen zu können, komme die Inaugenscheinnahme in der Regel nicht mehr in Betracht und sei insbesondere nicht das richtige Beweismittel, wenn es auf die umfangreiche Begutachtung des Gesundheitszustandes der Person, die in Augenschein genommen werden solle, ankomme und überdies Wertungen anzustellen seien, die sich durch bloße Inaugenscheinnahme nicht klären ließen wie z.B. die Frage der Notwendigkeit des Tragens eines Dauerkatheter. In einem solchen Fall sei vorrangig Sachverständigenbeweis zu erheben, den der Kläger aber ausdrücklich nicht beantragt.

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04.05.2023

Informationen

OLG Brandenburg
Urteil/Beschluss vom 02.02.2023
Aktenzeichen: 12 W 3/23

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