Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe
Messlatte jedes Behandlungsfehlers ist der medizinische Standard. Wann aber schlägt er sich auch als (konkrete) Behandlungspflicht nieder, wann bleibt dem Arzt ein (justiziabler) Spielraum und wann bewegen sich Abweichungen noch außerhalb eines haftungsrelevanten Pflichtenfelds? Hierzu äußern sich, in unterschiedlich gelagerten Konstellationen, die folgenden Entscheidungen.
Wie schwierig eine entsprechende Abgrenzung ausfallen kann, zeigt der folgende Fall, in dem der behandelnde Arzt mit einer in seinem Berufsleben praktisch nicht vorkommenden Behandlungssituation konfrontiert war - und das Gericht mit der Frage, wie angesichts dessen überhaupt die Möglichkeit eines groben Behandlungsfehlers in Betracht kommen kann.
Der Fall:
Die Patientin klagte am 14.08.2016 gegen 20:20 Uhr über Unwohlsein und Stiche in der linken Brust. Bei Ankunft in der Notaufnahme gegen 20:38 Uhr klagte sie über seit 30-60 Minuten anhaltende akute Thoraxschmerzen mit Ausstrahlung in den linken Arm und über bereits seit einer Woche auftretende belastungsabhängige Schmerzen. Mit der Verdachtsdiagnose eines ST-Hebungsinfarkts wurde für die Patientin gegen 20:45 Uhr eine Notfall-Koronarangiographie veranlasst, die der Bekl. zu 2. durchführte. Spätestens bei der zweiten Anlotung zeigte sich eine Dissektion des Hauptstammes der linken Koronararterie. Der Bekl. zu 2. führte dennoch weitere 4 Aufnahmen der linken Koronararterie durch und verabreichte intrakoronar einen Einzelbolus Aggrastat. Im Anschluss stellte er durch zwei Aufnahmen den Hauptstamm der rechten Koronararterie dar, der sich unauffällig zeigte.
Gegen 21:20 Uhr begann ein durchgehendes Kammerflimmern, es kam zum totalen Zusammenbruch des Herzkreislaufsystems. Gegen 22:30 Uhr begann der Lufttransport der Patientin ein Universitätsklinikum, wo es zum Zusammenbruch des Kreislaufs aufgrund fehlenden venösen Rückstroms kam; die Patientin verstarb gegen 03:50 Uhr.
Die Entscheidung des Gerichts:
1. Das Gericht musste zunächst feststellen, dass ein allgemein anerkannter fachlicher Standard i.S.v. § 630a Abs. 2 BGB für die Behandlung der Patientin in der konkreten Notfallsituation nicht existierte: „Der allgemein anerkannte fachliche Standard iSd § 630a Abs. 2 BGB ist der jeweilige Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnis und ärztlicher Erfahrung, der zur Erreichung des Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat. Dieser Begriff enthält ein Moment professioneller Akzeptanz. Entsprechend der nachvollziehbaren und für die Kammer überzeugenden Schilderung des gerichtlichen Sachverständigen Dr. R sah sich der Bekl. zu 2. bei dem Krankheitsbild der Patientin einer Situation ausgesetzt, die nur wenige Kardiologen deutschlandweit jemals während ihres ganzen Berufslebens erleben würden und die nicht zu trainieren sei, weil sie im Alltag zu selten auftrete, und für deren Behandlung es auch weder in Lehrbüchern, Leitlinien o.ä. Handlungsanleitungen oder -beschreibungen gäbe. Damit fehlt es aber an den zur Bestimmung eines Standards iSd § 630a Abs. 2 BGB erforderlichen ärztlichen Erfahrungen und Erprobungen.“
2. Dies bedeute aber nicht, dass in einer solchen Behandlungssituation keine Sorgfaltspflichten bestünden, weshalb das Gericht in einem zweiten Schritt, quasi zur Bildung eines „Ersatzmaßstabs“, nun auf § 276 Abs. 2 BGB und die - allerdings nicht hierzu, sondern zur Anwendung von Neulandmethoden herausgebildete - Rechtsprechung des BGH zurückgriff: „Die in § 630a Abs. 2 BGB getroffene Regelung ist nur eine Ergänzung des Sorgfaltsmaßstands des § 276 Abs. 2 BGB. Für den Fall, dass ein allgemein anerkannter Standard für die Behandlung nicht existiert, ist daher die Sorgfalt eines vorsichtig Behandelnden einzuhalten (BGH, Urteil vom 27.03.2007 - VI ZR 55/05 […])“. Das dürfte im Kern jedenfalls insoweit berechtigt sein, als die infolge fehlenden Auftretens entsprechender Konstellationen beim Behandler nicht vorhandenen Kenntnisse der Ungewissheit bei Neulandmethoden vergleichbar sind, wenn sie ungewöhnlich sind. Sind sie lediglich selten, überschneidet sich der Maßstab freilich mit der Pflicht des Arztes, v.a. auch schwere Diagnosen in Erwägung zu ziehen und primär auszuschließen, auch wenn sie selten sind.
Ausweislich des Gutachtens habe der Bekl. zu 2. gegen diese einen vorsichtig Behandelnden treffenden Sorgfaltspflichten verstoßen, indem er trotz der bereits nach der ersten Aufnahme gefällten Diagnose einer spontanen Dissektion des Hauptstamms der linken Koronararterie weitere Aufnahmen der linken Koronararterie anfertigt und die Patientin zusätzlich intrakoronar mit einem Einzelbolus von 15 ml Aggrastat versorgt habe, auch wenn die Situation ungewöhnlich gewesen sei. Die Kammer verkenne nicht, das sich der Bekl. zu 2. in einer beruflichen Ausnahmesituation befunden habe, in der er in äußerst kurzer Zeit die Entscheidung über sein weiteres Vorgehen habe treffen müssen und sich unter diesem Eindruck für weitere Aufnahmen entschieden habe: „Trotz des Fehlens eines anerkannten fachlichen Standards war übergeordnetes Ziel der vorsichtigen Behandlung der erkannten Dissektion aber, diese jedenfalls nicht zu vergrößern, deswegen so wenig wie möglich zu manipulieren und das wahre Lumen des Hauptstammes der linken Herzkranzarterie zu erhalten. Das Vorgehen des Bekl. zu 2. weicht hiervon ab und stellt deshalb einen Behandlungsfehler dar.“
3. Den danach festgestellten Behandlungsfehler bewertete das Gericht auf der Grundlage des Gutachtens sodann - angesichts einer Ausnahmesituation bemerkenswert - auch als grob. Denn „in der Videoschleife 2 sehe man deutlich das Vorliegen einer Dissektion des Hauptstamms vom Ostium des Hauptstamms bis mindestens zur Bifurkation (Auftrennung in Vorderwand und Hinterseitenwandarterie). Ab diesem Zeitpunkt sei das Vorgehen des Bekl. zu 2. nicht mehr vollständig nachvollziehbar. Stehe der Katheter im „falschen“ Lumen und würden weiter Kontrastmittel oder Medikamente in den Dissektionssack gedrückt, könne sich die Dissektion weiter ausdehnen und dadurch den Blutfluss stoppen, denn das „wahre“ Gefäßlumen werde weiter komprimiert. Es sei daher unverständlich, wieso der Bekl. zu 2. nach der Videoschleife 2 noch weitere 4 Aufnahmen angefertigt und somit zur Verschlechterung der Dissektion beigetragen habe. […] Der Bekl. zu 2. scheine in diesem Moment von einem Thrombus ausgegangen zu sein, den man unter bestimmten Umständen mit Aggrastat behandeln könne. Er habe sich offenbar von der Vorstellung, einen klassischen STEMI zu behandeln, noch nicht lösen können.“
Waren damit freilich nur Gründe für die Annahme eines Behandlungsfehlers, nicht auch eines groben benannt, wurde das Gericht auch in den folgenden Ausführungen - für dies wiederum den Sachverständigen heranzog - nicht deutlicher: „Für ihn persönlich seien die von ihm benannten Fehler nicht nachzuvollziehen. Aus seiner Sicht dürften diese einem interventionell tätigen Kardiologen nicht passieren. Diese Ausführungen überzeugen auch vor dem Hintergrund, dass sich der Sachverständige intensiv und selbstkritisch mit der Bewertung der Schwere der Fehler des Bekl. zu 2. auseinandergesetzt hat, was sich nicht zuletzt dadurch gezeigt hat, dass er in seinen mündlichen Ausführungen - aufgrund der persönlichen Schilderungen des Bekl. zu 2., dass bereits die Verlegung der Patientin geplant gewesen sei - die Aufnahmen im rechten Herzkranzgefäß in zwei Ebenen zwar als fehlerhaft, aber nicht mehr als grob fehlerhaft bewertet hat“. Das erscheint wenig überzeugend, zeigt allerdings die Schwierigkeit, in solchen Fällen gleich über zwei ungewöhnlicher Hürden zu springen - zunächst überhaupt einen Maßstab zu finden und sodann auch noch einen für den groben Fehler. Schon die Notwendigkeit eines solchen „doppelten Anlaufs“ dürfte in der Regel der Annahme eines groben Fehlers wohl eher entgegenstehen.
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