Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

Wertendes Nachvollziehen oder Anmaßen eigener Sachkunde?

In eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG kann eine Beweiswürdigung freilich gerade dann münden, wenn sie mit besonderer Mühe erfolgt, die sachverständigen Ausführungen nachzuvollziehen, jedoch droht, die sachverständige Einschätzung zu verlassen, sich also vom Gutachten zu lösen und in die Anmaßung eigener Sachkunde münden. Diese Gratwanderung mag die folgende Entscheidung illustrieren.


Der Fall:
Das OLG hatte zu prüfen, ob die Bekl. behandlungs-fehlerhaft agierte, indem sie es trotz Abfalls der Blut-sauerstoffkonzentration der Kl. auf bis zu 40 % unter Maskenbeatmung unterließ, die Kl. vom Beatmungsgerät zu trennen und sie mit einer alternativen Methode zu beatmen. Es zog hierzu nicht nur Ausführungen des gerichtlich bestellten anästhesiologischen Sachverständigen im erstinstanzlichen und im Berufungsverfahren heran, sondern auch Erläuterungen im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren und Ausführungen des Privatsachverständigen der Bekl.


Die Entscheidung des Gerichts:
Das OLG bejahte einen Behandlungsfehler, wobei es die Gutachten mit selten ausführlicher Detailbetrachtung nachvollzog und zuweilen die Frage aufwirft, ob es wirklich hierbei stehen bleibt oder nicht zwischen den Zeilen lesend bzw. über die Gutachten hinausgehend eine eigene medizinische Würdigung vornimmt:


„Die Prozessbevollmächtigte der Bekl. zu 1) und 2) macht weiter geltend, ein Behandlungsfehler könne im Unterlassen der Trennung der Kl. vom Narkosegerät deshalb nicht gesehen werden, weil die […] Empfehlung „Funktionsprüfung des Narkosegerätes bei geplantem Betriebsbeginn, bei Patientenwechsel im laufenden Betrieb und im Notfall“ der Kommission für Normung und technische Sicherheit der DGAI […] eine Diskonnektion vom Narkosegerät nur unter der Rubrik ‚Notfall‘, nicht aber bei der hier einschlägigen Rubrik ‚Patientenwechsel‘ empfehle. Dem vermag der Senat nicht zu folgen.


(1) Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der zu einem bestimmten Aspekt zu wahrende medizinische Standard, wie er nunmehr in § 630a Abs. 2 BGB normiert ist, nicht zwingend mit dem Inhalt einer einschlägigen Aussage in einem bestimmten Regelwerk einer Institution aus der medizinischen Wissenschaft gleichzusetzen ist; dem Richter steht es frei, die erforderliche Standardkonkretisierung allein auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens vorzuneh-men, ist aber gehalten, ein zur Bestimmung des Standards erholtes Sachverständigengutachten anhand vorgetragener einschlägiger Inhalte von Leitlinien oder anderen Verlautbarungen insbesondere der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (hier der DGAI) zu überprüfen […]. In diesem Zusammenhang ist immer auch die Möglichkeit eines schlichten (redaktionellen) Fehlers der Verlautbarung im Blick zu halten […].


(2) Der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. St. hat, im Berufungsverfahren mit der Behauptung der Prozessbevollmächtigten der Bekl. zu 1) und 2) zum angeblichen Inhalt der Empfehlung konfrontiert, ausgeführt […]: ‚Der Kernsatz, dass bei einer Zyanose unklarer Ursache, wenn eine andere Erklärungsmöglichkeit nicht gesehen wird, eine Trennung vom Gerät zu erfolgen hat, gilt nach dem hier anzuwendenden Standard allgemein. Er ist nicht lediglich auf die Notfallsituation bezogen, in der eine vorherige Geräteprüfung durch den Anästhesisten nicht erfolgt war.‘ Auch der im Ermittlungsverfahren tätig gewordene Sachverständige Professor Dr. Sch. hat sich für seine Auf-fassung, eine probatorische Diskonnektion vom Gerät sei erforderlich gewesen, ausdrücklich auf die genannte Empfehlung bezogen […].


(3) Nach Auffassung des Senats ergibt die textliche und systematische Analyse der von beiden Sachverständigen in Bezug genommenen Empfehlung, dass der von ihnen zitierte Passus schon nach dem Selbstverständnis der Empfehlung […] nicht nur für den Fall eines Notbetriebs des Geräts (ohne vorherigen „Gerä-techeck A“ oder „Gerätecheck W“), sondern allgemein gilt; der Fall, dass ein Sachverständiger geltend macht, der von ihm postulierte medizinische Standard verlange mehr oder anderes als in einem Regelwerk niedergelegt, liegt also gar nicht vor.


(a) Zutreffend ist, dass sich die […] vorgelegte Empfehlung nach der Einleitung in vier Abschnitte gliedert, die mit ‚Sicherheitstechnische Kontrolle (STK)‘, ‚Prü-fung auf ordnungsgemäßen Zustand und Funktionsfähigkeit des Narkosegerätes nach Checkliste vor geplantem Betrieb (Gerätecheck A)‘, ‚Prüfung auf ordnungsgemäßen Zustand und Funktionsfähigkeit des Narkosegerätes beim Patientenwechsel im laufenden Programm (Gerätecheck W)‘ und ‚Funktionsprüfung der Geräte im Notfall (Gerätecheck N)‘ überschrieben sind. Diese systematische Gliederung legt zunächst, im Sinne der Argumentation der Bekl., die Erwartung nahe, dass sich die Ausführungen im zuletzt genannten Abschnitt sämtlich ausschließlich auf diejenigen Fälle beziehen sollen, in denen ein Narkosegerät in Betrieb genommen wird, ohne dass zuvor der A-Check bzw. (zwischen der Behandlung zweier Patienten im laufenden Programm) der W-Check durchgeführt wurde.


(b) Die textliche Analyse des Abschnitts bestätigt diese Erwartung jedoch nur teilweise.


(aa) Der Systematik entsprechend, wird der Abschnitt mit folgendem Satz eingeleitet: ‚Wird entsprechend den vorab dargestellten Empfehlungen die Funktion der Narkosegeräte nach Gerätecheck A überprüft, so kann davon ausgegangen werden, dass jedes Narkosegerät in ordnungsgemäßem, funktionsfähigem Zustand bereitgestellt wurde.‘


(bb) Schon der nächste Satz lässt jedoch unmissverständlich erkennen, dass er sich auch auf den Fall bezieht, dass nach Durchführung des A-Checks ein Notfall auftritt, ein Notfallbetrieb des Geräts ohne vorherige Durchführung des (nach der Empfehlung vor jeder geplanten Inbetriebnahme des Geräts, jedenfalls aber einmal wöchentlich obligaten) A-Checks also nicht gegeben ist; denn es heißt weiter (Hervorhebungen ergänzt): ‚Dennoch ist nicht auszuschlie-ßen, dass zwischenzeitlich unsachgemäß am Gerät manipuliert wurde oder einzelne technische Funktionen ausgefallen sind.‘


(cc) Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die nun folgenden Sätze – ‚Bei unmittelbar drohender vitaler Gefährdung eines Patienten stehen zwei Funktionen eines Narkosegerätes ganz im Vordergrund: die gesicherte Zufuhr von Sauerstoff und die sichere Möglichkeit der Beatmung.‘ – nicht nur auf den Fall zu beziehen, dass die unmittelbar drohende vitale Gefährdung des Patienten bereits vor (notfallmäßiger) Inbetriebnahme des Narkosegerätes bestand, sondern auch auf den Fall, dass diese Gefährdung während des Gebrauchs des (planmäßig nach Durchführung des A-Checks in Betrieb genommenen) Geräts aufgetreten ist.


(dd) Die dieser Vorgabe folgende Formulierung der konkreten Handlungsanweisungen ist allerdings erkennbar auf den Fall der notfallmäßigen Inbetriebnahme des Geräts ohne vorherigen A-Check bezo-gen: ‚So muss die Funktionsprüfung im Notfall auf diese beiden Funktionen fokussieren: Nach Herstellung der Verbindung zur Gas- und Stromversorgung sowie Einschalten des Narkosegeräts und der Überwachungsgeräte ist das Sauerstoffventil an der Gasdosiereinrichtung zu öffnen und der Abstrom eines Gasflusses am Y-Stück zu verifizieren: Notüberprüfung der Funktion der Sauerstoffdosiereinrichtung.‘


(ee) Bei der am Ende dieses Passus markierten Fußnote handelt es sich um die von den Sachverständigen Dr. St. und Professor Dr. Sch. in Bezug genommene Aussage der Empfehlung: ‚Bei jeder Zyanose unklarer Ursache ist an die Möglichkeit zu denken, dass dem Patienten ein hypoxisches Gasgemisch zugeführt wird. Eine probatorische Diskonnektion vom Narkosegerät und Beatmung mit dem separaten Handbeatmungsbeutel wird in dieser Situation emp-fohlen [...]‘.
Aus Sicht des Senats kann diese Aussage - in Übereinstimmung mit der Auffassung der Sachverständigen Dr. St. und Professor Dr. Sch.- nur so verstanden werden, dass sie sich auf jedweden Fall des Auftritts einer Zyanose unklarer Ursache unter der Narkosebehandlung bezieht. […]


(4) Die systematische Stellung des zitierten Fußnotentextes steht diesem Verständnis, wie dargelegt, nicht entgegen, wobei auch zu bedenken ist, dass es sich bei der Empfehlung nicht um einen Gesetzestext oder einen notariellen Vertrag, sondern um praktische Handlungsanweisungen für den behandelnden Anästhesisten handelt; der Klarheit der textlichen Aussage (‚Bei jeder Zyanose unklarer Ursache‘) ist daher der Vorrang zu geben gegenüber etwaigen Unschärfen bezüglich der systematischen Stellung dieser Aussage (im Abschnitt ‚Funktionsprüfung der Geräte im Notfall (Gerätecheck N)‘). Im Übrigen erschiene eine solche Unschärfe als redaktioneller Fehler in der Empfehlung, deren Verfasser erkennbar zum Ausdruck bringen wollten, dass eine probatorische Dis-konnektion bei jeder Zyanose unklarer Ursache empfohlen wird. Dass ein solches Vorgehen dem (bereits im Behandlungszeitraum einzuhaltenden) medizinischen Standard entsprach, haben die Sachverständigen Dr. St. und Professor Dr. Sch. nachvollziehbar dargelegt.“

 

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17.02.2025

Informationen

OLG München
Urteil/Beschluss vom 05.01.2024
Aktenzeichen: 24 U 2706/19

Fachlich verantwortlich

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