Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

Voll beherrschbare Haftung? - Entbindung ohne Klingel?

Voll beherrschbare medizinische Risiken führen rasch zur Haftung, da nun gem. § 630h Abs. 1 BGB bereits eine Pflichtverletzung des Arztes vermutet wird. Umso kritischer bleibt die Einordnung eines Risikos als voll beherrschbar, umso aufmerksamer aber auch der Blick auf Fallkonstellationen, inwieweit ein voll beherrschbares Risiko als Schadensquelle überhaupt in Betracht zu ziehen ist.

 

 

 

Gar nicht als Fall eines voll beherrschbaren Risikos, sondern als „Organisationsfehler“ eingeordnet hat das OLG hingegen die Konstellation, dass einer Schwangeren nach der Geburt für die Zeit des „Bondings“ mit dem Neugeborenen keine Klingel zur Verfügung gestellt wurde. Dabei ist die Organisation der medizinischen Behandlung freilich besonders häufig voll beherrschbar und nicht minder schadensträchtig als manche eigentliche Behandlungsmaßnahme. Insoweit bedarf die Abgrenzung, wie der folgende Fall verdeutlicht, weiterer Abgrenzung, zu der es in der bisherigen Rspr. des VI. Zivilsenats allerdings noch nicht gekommen ist.

 

 

 

Der Fall:

Die durch ihre Eltern vertretene minderjährige Kl. macht gegen die Bekl. Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche wegen behaupteter geburtshilflicher Behandlungsfehler im Zusammenhang mit ihrer Geburt im Hause der Bekl. zu 1 geltend. Das LG hatte der Klage mit der Begründung stattgegeben, dass die Mutter der Kl. fehlerhaft versorgt worden sei, indem ihr weniger als zwei Stunden nach der Geburt ihres Kindes nicht die Möglichkeit gegeben worden sei, vom Bett aus mit einer Klingel ärztliche oder pflegerische Hilfe herbeizurufen.

 

 

 

 

Die Entscheidung des Gerichts:

Dem ist das OLG gefolgt und dabei das Fehlen von Leitlinien als irrelevant betrachtet: „Die Auffassung der Bekl., ein Standard könne nur angenommen werden, wenn eine wissenschaftliche Erkenntnis auf der Grundlage von Studien gegeben sei, wird vom Senat nicht geteilt. Ein haftungsrelevanter Behandlungsfehler liegt aus juristischer Sicht nicht etwa nur dann vor, wenn, worauf die Bekl. abstellen, ein evidenzbasierter medizinischer Standard unterschritten wird. Entgegen der Auffassung der Bekl. bedeutet die Annahme eines medizinischen Standards auch ohne evidenzbasierte Leitlinien oder wissenschaftliche Studien nicht, dass dann auf eine subjektive Einzelmeinung des hinzugezogenen Sachverständigen abzustellen sei. Vielmehr hat der Sachverständige entsprechend seines Gutachtenauftrags ausführlich und gut begründet den geburtshilflichen Standard aufgrund seiner fachlichen Kenntnisse und Erfahrungen dargelegt. Dafür dass er lediglich seine eigene – vom Standard abweichende – subjektive Meinung dargelegt hätte, wie die Bekl. ihm vorwerfen, fehlen jegliche Anhaltspunkte. Vielmehr hat der Sachverständige in der Berufungsverhandlung erläutert, dass Geburtshilfe eine Menge an Erfahrungen und Empfehlungen beinhalte, die nicht evidenzbasiert seien. Dennoch würden Standards aufgestellt. Es gebe Elemente einer Sicherheit, die sich bewährt hätten und wie im vorliegenden Fall gerade in einem Kreißsaal berücksichtigt werden müssten. Die Klingel sei die effizienteste Art, Beistand zu holen. Dass die Patientin in erreichbarer Nähe eine Klingel habe, werde auch so gehandhabt“.

Hätte sich diese Diskussion erübrigt, wenn das Risiko einer nicht rechtzeitig erfolgten Behandlung mittels einer Klingel voll beherrschbar gewesen wäre? Entbehrlich wäre sicher nicht die Einholung eines Gutachtens gewesen, möglicherweise aber die Frage der genauen Standardeinordnung, wenn ein Organisationsversäumnis auf der Hand gelegen habe. Spannend wird freilich dann der Anknüpfungspunkt für Fragen der Kausalität, da auch eine Einordnung als voll beherrschbares Risiko schadensstiftend erst über das hierdurch versäumte Behandeln sein konnte. Bemerkenswerterweise tut das OLG dies indes nicht, sondern wählt erneut die fehlende Klingel zum Bezugspunkt: „Die Auffassung der Bekl., ein Standard könne nur angenommen werden, wenn eine wissenschaftliche Erkenntnis auf der Grundlage von Studien gegeben sei, wird vom Senat nicht geteilt. Ein haftungsrelevanter Behandlungsfehler liegt aus juristischer Sicht nicht etwa nur dann vor, wenn, worauf die Bekl. abstellen, ein evidenzbasierter medizinischer Standard unterschritten wird. Entgegen der Auffassung der Bekl. bedeutet die Annahme eines medizinischen Standards auch ohne evidenzbasierte Leitlinien oder wissenschaftliche Studien nicht, dass dann auf eine subjektive Einzelmeinung des hinzugezogenen Sachverständigen abzustellen sei. Vielmehr hat der gerichtlich bestellte Sachverständige ausführlich und gut begründet den geburtshilflichen Standard aufgrund seiner fachlichen Kenntnisse und Erfahrungen dargelegt. Dafür dass er lediglich seine eigene – vom Standard abweichende – subjektive Meinung dargelegt hätte, wie die Bekl. ihm vorwerfen, fehlen jegliche Anhaltspunkte. Vielmehr hat der Sachverständige in der Berufungsverhandlung erläutert, dass Geburtshilfe eine Menge an Erfahrungen und Empfehlungen beinhalte, die nicht evidenzbasiert seien. Dennoch würden Standards aufgestellt. Es gebe Elemente einer Sicherheit, die sich bewährt hätten und wie im vorliegenden Fall gerade in einem Kreißsaal berücksichtigt werden müssten. Die Klingel sei die effizienteste Art, Beistand zu holen. Dass die Patientin in erreichbarer Nähe eine Klingel habe, werde auch so gehandhabt.

Geht man dann aber auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung von einer Vermutung auch der Kausalität nicht nur im Spezialfall des voll beherrschbaren Risikos in § 630h Abs. 4 BGB, sondern allgemein aus, wäre auch diese Diskussion entbehrlich.

 

 

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31.10.2022

Informationen

OLG Dresden
Urteil/Beschluss vom 20.09.2021
Aktenzeichen: 1 U 32/20

Fachlich verantwortlich

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