Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

Bemessung von Schmerzensgeld - Schmerzensgeldbemessung zu Beginn des Lebens und im Alter

Zumindest unter Streitwertaspekten eines der zentralen Ziele im Personenschadensprozess, bleibt die Bemessung von Schmerzensgeld ungeachtet aller Versuche, sie in klarer fassbare Raster zu zwängen, ein ergebnisoffenes Unterfangen. Das Ringen mit dem Einzelfall kann freilich auch das ‚taggenaue Schmerzensgeld‘ sich nicht ersparen, auch wenn es eine (schein-) genauere Annäherung an objektive und vergleichbare Ergebnisse suggeriert. In besonderem Maße gilt dies, wie die folgenden Fälle zeigen, wenn die Fälle an den Rand des Systems gelangen, wie bei der Einordnung von Schwerstschädigungen (1.), die Gewichtung von Schädigungen am Anfang des Lebens und im Alter (2.) oder auch - nun freilich unter den normativen Vorzeichen von § 844 Abs. 3 BGB - bei der Bemessung von Hinterbliebenengeld (3.)

 

 

 

In vergleichbare Argumentationsnöte gerät die Schmerzensgeldbemessung auch, soweit sie sich explizit dem Beginn des Lebens und Schädigungen im Alter zuwendet, soweit hier notwendig Differenzbetrachtungen Einzug halten.

a)    Schmerzensgeld bei Geburtsschaden eines ohnehin chrosomal geschädigtem Kind

Der Fall:

Bei der Kl. war vorgeburtlich ein Herzfehler festgestellt worden, der einer „normalen“ Geburt jedoch nicht im Wege stand. Nach der Geburt bestand bei dramatisch schlechten Apgarwerten (1/4/4) ein reanimationspflichtiger Zustand. Nach Maskenbeatmung, die keinen Erfolg brachte, entschloss man sich zur Intubation, die jedoch erst im 5. Anlauf gelang. Grund hierfür war zum einen unzureichende Maskenbeatmung bis zur schließlich gelungenen Intubation sowie eine verzögerte Reaktion auf die niedrigen Kohlendioxiypartialdrücke. Nach der Geburt wurde sodann festgestellt, dass die Kl. unter einer Chromosomenanomalie in Form eine Mikrodeletionssyndroms 22 q 11 („Catch 22-Syndrom“) leidet. Sie ist auch heute noch in vielfacher Hinsicht motorisch behindert und mental stark beeinträchtigt. Mit ihrer Klage verfolgt sie ein Schmerzensgeld von mindestens 500.000 €.

Die Entscheidung des Gerichts:

Das OLG erachtete einen Betrag von 375.000 € für ausreichend, wobei es im Rahmen einer expliziten Vergleichsbetrachtung maßgeblich die chromosomale Vorschädigung der Kl. berücksichtigte:

Der Zustand der Kl. würde zwar, wäre er der Bekl. anzulasten, ein Schmerzensgeld im Bereich der Vorstellungen der Kl. rechtfertigen. Allerdings sei zu berücksichtigen, dass bei der Kl. aufgrund ihrer Chromosomenanomalie ohnehin eine leichte geistige Behinderung eingetreten wäre: „Zusammenfassend stellt der Sachverständige fest, dass alle Symptome, die auch bei 22 q 11-DS aufgetreten wären, wegen der im Zuge der pränatalen Behandlung aufgetretenen Hirnschäden viel ausgeprägter vorhanden sind […], wobei der Herzfehler unstreitig nicht auf Behandlungsfehler zurückzuführen ist, sondern ausschließlich zur Symptomatik von 22 q 11-DS gehört.“

Bei der Entscheidung der Frage, in welcher Höhe man den Umstand, dass die Kl. aufgrund ihrer 22 q 11-DS bedingten Behinderung ohnehin in verschiedener Weise beeinträchtigt gewesen wäre, stelle der Senat auf die jetzt vorhandenen Beeinträchtigungen und die Beeinträchtigungen, die auf die Chromosomenanomalie zurückzuführen seien, ab. Das eingeschränkte Sprachverständnis, aber auch die geringe Sprachproduktion seien Folge und Ausdruck der schweren geistigen Behinderung und nicht einer syndrombedingten Fehlbildung der Sprechwerkzeuge im Bereich von Kehlkopf und Mund. 22 q11-DS-Kinder entwickelten sich sprachlich zwar häufig langsamer als ihre Altersgenossen, aber bei weitem nicht im vorliegenden Ausmaß. Auch Schluck- und auch Verhaltensprobleme würden durch die geistige Behinderung verursacht bzw. verstärkt, die in ihrer ungewöhnlichen Schwere durch die postnatale Hypoxie mitverursacht bzw. verstärkt worden sei. Was ihre Intelligenz betreffe, so hätte die Kl. mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einen der „Ausbildungsberufe für Menschen mit Behinderungen“ erlernen und ausführen können. Insgesamt hätte sie ein weitgehend „normales“, relativ selbständiges Leben führen können und in dem für sie passenden Personenkreis auch soziale Kontakte, Freundschaften etc. haben können, was jetzt aufgrund der Schwere ihrer geistigen Behinderung und der nahezu völlig fehlenden Kommunikationsfähigkeit nicht der Fall sei. Hinzu komme, dass der Kl. ihre Einschränkungen sehr bewusst seien und sie auch einen eigenen Willen habe, so dass sie entsprechend frustriert sei, wenn sie ihre Wünsche nicht äußern kann.

Nach alledem sei bei unter Berücksichtigung der der Bekl. nicht zuzurechnenden Grunderkrankung ein deutlicher Abschlag vorzunehmen. Auf der anderen Seite rechtfertige der Vergleich zwischen dem Leben, welches die Kl. jetzt führe, und dem Leben, welches sie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit (§ 287 ZPO) geführt hätte, eine Kompensation durch Zahlung eines Schmerzensgeld in einem Bereich, der dem Umstand, dass die Kl. durch einen groben Behandlungsfehler der Bekl. in keiner Weise jemals ein selbständiges Lebens werde führen können und ihr Leben lang in allen Bereichen auf die Hilfe Dritter angewiesen sei, Rechnung trage.

KG Berlin 01.07.2019 – 20 U 103/13

b)    Schmerzensgeld bei Schädigung mit 70 Jahre nach erfülltem Leben

Der Fall:

Der Bekl. haftet für die verzögerte Diagnose einer Krebserkrankung bei der zwischenzeitlich verstorbenen, seinerzeit 70-jährigen Patientin. Mit seiner Klage verfolgt der Kl. ein Schmerzensgeld von 50.000 €.

Die Entscheidung des Gerichts:

Das OLG hielt den verfolgten Betrag für insgesamt angemessen. Schwerpunkt der Schmerzensgeldbewertung sei sowohl hinsichtlich der körperlichen als auch der psychischen Lebensbeeinträchtigungen der Zeitraum ab Bekanntwerden der ersten Lungenmetastase im Februar 2011 und des Metastasenrezidivs im Januar 2012. Die Patientin habe ihre Chancen auf eine Genesung zunehmend schwinden sehen und sich stattdessen immer konkreter auf ihren bevorstehenden Tod einstellen müssen. Die Darstellung dieses letzten Lebensabschnitts mit schrecklichen Schmerzen, Verzweiflung und Todesangst sei unmittelbar nahvollziehbar. Sie entspreche den allgemein bekannten furchtbaren Erlebnissen von Menschen mit einer Krebserkrankung im Endstadium. Alle anderen Aspekte des Falles seien demgegenüber für die Schmerzensgeldzumessung von deutlich geringerer Bedeutung:

„Grundlage der Schmerzensgeldzumessung ist […], dass sich eine 70 Jahre alte verheiratete Frau mit zwei erwachsenen Söhnen und zwei Enkelkindern im Teenageralter im Februar 2011 wegen auftretender Lungenmetastasen zunehmend Sorgen um ihr Leben machen und diversen körperlich und psychisch belastenden medizinischen Eingriffen, insbesondere einer Chemotherapie, unterziehen musste. Ab Anfang 2012 wurde ihr Kampf ums Überleben dann zunehmend verzweifelt. Die verbleibenden ca. acht Monate waren nur noch leidensgeprägt und mit entsetzlichen Schmerzen verbunden.“

Die erlittene Lebensbeeinträchtigung sei bei einer 70 Jahre alten Person typischerweise zwar unterdurchschnittlich, „da man in diesem Alter die zentralen erfüllenden Momente des Lebens wie etwa Jugend, Liebe, Hochzeit, Mutterschaft und beruflichen Erfolg - anders als eine im Kindesalter Geschädigte - noch erleben konnte. Genau das trifft auch auf die Ehefrau des Kl. zu. Zwar hätte sie ohne den Fehler des Bekl. womöglich noch eine ganze Reihe von Jahren leben können. Ihr Leben wurde aber erst zu einem Zeitpunkt beeinträchtigt, zu dem sie persönlich allein schon wegen ihrer Grunderkrankung erhebliche Einschränkungen im Sport- und Freizeitbereich hätte hinnehmen müssen und zu dem sich statistisch alsbald weitere altersbedingte gesundheitliche Probleme hinzugesellt hätten. Die Ehefrau des Kl. konnte zudem auch ohne erkennbare besondere Sorgen aus dem Leben scheiden. Sie musste keine schutzbedürftigen Angehörigen zurücklassen. Mann und Kinder waren selbständig und wirtschaftlich versorgt“. Dementsprechend sei das Schmerzensgeld auch in Übereinstimmung mit vergleichbaren [ausführlich erörterten] Entscheidungen auf die tenorierte Höhe festzusetzen.

(OLG Frankfurt, Urteil vom 22. Dezember 2020 – 8 U 142/18 –, Rn. 56 - 67, juris)“

 

 

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31.10.2021

Informationen

OLG Frankfurt a.M
Urteil/Beschluss vom 22.12.2020
Aktenzeichen: 8 U 142/18

Vorinstanzen

KG Berlin
Urteil/Beschluss vom 01.07.2019
Aktenzeichen: 20 U 103/13

Fachlich verantwortlich

Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

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