Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

Bemessung von Schmerzensgeld - Schwerstschädigungen

Zumindest unter Streitwertaspekten eines der zentralen Ziele im Personenschadensprozess, bleibt die Bemessung von Schmerzensgeld ungeachtet aller Versuche, sie in klarer fassbare Raster zu zwängen, ein ergebnisoffenes Unterfangen. Das Ringen mit dem Einzelfall kann freilich auch das ‚taggenaue Schmerzensgeld‘ sich nicht ersparen, auch wenn es eine (schein-) genauere Annäherung an objektive und vergleichbare Ergebnisse suggeriert. In besonderem Maße gilt dies, wie die folgenden Fälle zeigen, wenn die Fälle an den Rand des Systems gelangen, wie bei der Einordnung von Schwerstschädigungen (1.), die Gewichtung von Schädigungen am Anfang des Lebens und im Alter (2.) oder auch - nun freilich unter den normativen Vorzeichen von § 844 Abs. 3 BGB - bei der Bemessung von Hinterbliebenengeld (3.)

 

 

 

Mit der Wahrnehmung der eigenen Beeinträchtigungen durch den Geschädigten tut sich die Rechtsprechung seit Jahrzehnten besonders schwer, insbesondere dann, wenn es sich um Schwerstschädigungen bei Personen handelt, die einen anderen Zustand gar nicht kennen. Während der Verlust der Empfindungsfähigkeit zum Maximalschaden führt, stuft die Rechtsprechung die aufrechterhaltene Empfindungsfähigkeit als schmerzensgeldreduzierenden Faktor ein, obwohl der Geschädigte (nur) hier in besonderem Maße hierunter leidet. Eine scharfe systematische Grenzziehung zwischen Schmerzensgeld und Persönlichkeitsrechtsverletzung hat freilich auch der BGH bislang hier nicht unternommen, und so bleiben auch folgende beiden Fälle einmal mehr - wenngleich in Einklang mit der herrschenden Rechtsprechung - in schon bald zynisch anmutenden Maße ambivalent.

a)    Cerebralparese 1

Der Fall:

Die Kl. leidet seit ihrer Geburt unter einer infantilen globalen dyskinetischen Cerebralparese mit Störung des Bewegungsapparates und gravierenden Koordinationsstörungen. Betroffen sind die psychischen und kognitiven Bereiche sowie die Persönlichkeitsbildung. Es liegt eine deutliche Mikrozephalie vor und sie leidet unter Epilepsie. Sie kann nicht sprechen, nicht ohne Hilfe essen, nicht lesen und schreiben. Sie kann keine gezielten Bewegungen ausführen, nicht laufen, nicht stehen und nur mit Hilfsmitteln sitzen. Die Kl. leidet an Inkontinenz und Gelenkdeformationen sowie Versteifungen. Aufgrund einer Fehlkoordination der Zunge stößt sie Speisen aus der Mundhöhle aus und muss gefüttert werden. Sowohl Nahrungsaufnahme als auch die Flüssigkeitszufuhr muss sorgfältig überwacht werden. Dennoch ist sie erheblich unterernährt. Sie leidet an einem ausgeprägten Intelligenzverlust und hat einen Intelligenzquotienten von 30. Die Sehkoordination und Hörfähigkeit ist gemindert.

Seit ihrer Geburt wird sie zu Hause von den Eltern gepflegt. Seit ihrem 3. Lebensjahr besuchte sie täglich von 8.00 Uhr bis 15:30 Uhr einen Kindergarten. Nach anfänglicher Einstufung in Pflegestufe II ist sie nun in Pflegestufe V eingeordnet.

Das Landgericht hat ein Schmerzensgeld von 500.000 € (abzüglich gezahlter 300.000 €) zugesprochen, das durch die Behinderung der Kl. und das Bild eines in erheblichem Maße hilflosen Kindes mit schwersten Schädigungen und weitestgehender Zerstörung der Persönlichkeit, der Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit gerechtfertigt werde. Die weitergehende, auf 680.000 € Schmerzensgeld gerichtete Klage hat es abgewiesen.

Die Entscheidung des Gerichts:

Das OLG hat die Schmerzensgeldbemessung des LG bestätigt und ist dabei insbesondere sämtlichen zugunsten einer hohen Schmerzensgeldbemessung sprechenden Argumenten beigetreten. Mindernd zu berücksichtigen seien jedoch die reduzierten verbliebenen Fähigkeiten der Kl.:

„Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die Kl. zunächst ab dem dritten Lebensjahr einen Kindergarten besuchen konnte und seit dem sechsten Lebensjahr eine Förderschule besucht. Sie ist – wenn auch infolge ihrer Beeinträchtigungen in sehr eingeschränktem Umfang – in der Lage, mit anderen Kindern in Interaktion zu treten, was sich sowohl aus Berichten des Kinderarztes als auch aus dem Jahreszeugnis des Schuljahres 2016/2017 ergibt. Sie kann mit individueller Unterstützung mit Hilfe des Tobii Talkers Unterrichtsbeiträge erbringen. Kurze Strecken kann sie mit einem speziellen Fahrrad zurückzulegen. Im Hinblick darauf, dass ihre Persönlichkeit zwar schwer beeinträchtigt ist, in geringem Umfange aber durchaus noch zum Tragen kommt, ist unter Berücksichtigung der Gesamtumstände ein Schmerzensgeld, das einen Betrag von 500.000,00 € übersteigt, nicht mehr angemessen.“ Dabei könne dahinstehen, ob der Betrag von 500.000,00 € in der Regel eine Obergrenze für solche Fälle bildet, bei denen es infolge eines Geburtsschadens zu schweren Hirnschädigungen des Kindes gekommen ist, da jedenfalls der vorliegende Fall keinen Anlass biete, diesen Betrag zu überschreiten.

Dass es der Kl. möglich sei, ihre Situation zu reflektieren, sei dabei berücksichtigt: „ Eine wesentliche Ausprägung des immateriellen Schadens kann nämlich darin bestehen, dass der Verletzte sich seiner Beeinträchtigung bewusst ist und deshalb in besonderem Maße unter ihr leidet. […] Die trotz der schweren Hirnschädigung noch vorhandenen kognitiven Fähigkeiten machen es der Kl. nachvollziehbar sicher schmerzhaft bewusst, dass sie gegenüber anderen Kindern stark eingeschränkt ist. Andererseits ermöglichen diese Fähigkeiten ihr aber auch in begrenztem Umfang eine Teilhabe am sozialen Leben und - mit Hilfsmitteln - auch eine Kommunikation mit ihrer Umgebung. So ergibt sich insbesondere aus dem von der Kl. vorgelegten Vorsorgebedarfserhebung […], dass die Kl. Dank der ihr zuteil gewordenen Förderung mit Hilfe des „Tobii Talkers“ ihre Bedürfnisse äußern kann, wenn sie dafür auch sehr viel Zeit benötigt. Sie pflegt soziale Kontakte auch außerhalb der engeren Familie und trifft sich mit Freunden. Sie wird in Berichten auch als von der Grundstimmung her fröhliches Kind beschrieben. Von ihrem Entwicklungsstand bleibt die Kl. zwar hinter gleichaltrigen Kindern aufgrund ihrer Behinderung deutlich zurück, erreicht aber immerhin den Stand eines Kleinkinds. Hierdurch wird deutlich, dass das nach den oben dargestellten Grundsätzen maßgebliche Gesamtbild der Erkrankung der Kl. trotz seiner Schwere bezüglich des Maßes der Lebensbeeinträchtigung hinter den Fallgestaltungen zurückbleibt, die Gegenstand der von der Kl. genannten und anderen Referenzentscheidungen waren und bei denen - teils indexiert - ein höheres Schmerzensgeld als 500.000 € zugesprochen worden ist.“

OLG Koblenz 16.12.2020 – 5 U 836/18

b)    Cerebralparese 2

Der Fall:

Auch in dem vom OLG Dresden zu entscheidenden Fall leidet der Kl. seit seiner Geburt an einer Cerebralparese mit schwerwiegenden Folgen und der gesteigerten Wahrscheinlichkeit von Folgeerkrankungen. Hier hielt das OLG einen Schmerzensgeldbetrag von insgesamt 425.000 € für ausreichend.

Die Entscheidung des Gerichts:

Auch hier stellt das Gericht zunächst ausführlich die erheblichen und teils drastischen Einschränkungen des Kl. dar. Ein Maximalbetrag sei jedoch auch gleichwohl nicht zuzusprechen:

„Demgegenüber hat der Sachverständige aber auch festgestellt, dass die meisten Kinder, die seit der Geburt an einer Zerebralparese leiden, mit dieser Behinderung in der Regel gut zurechtkämen, weil sie aufgrund des frühen Eintritts der Behinderung das eigene Leben nicht als Gesunder erlebt hätten und daher nicht retrospektiv einschätzen könnten, was sie persönlich verloren haben könnten. Von einem weiteren Fortschreiten des nachgewiesenen ‚Hydrocephalus e vacuo‘ sei mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht auszugehen. Der Kl. sei überdies derzeit in vollem Umfang emotional schwingungsfähig, könne Freude empfinden und zeigen. Es sei zwar zu befürchten, dass es durch die Wahrnehmung dieser Einschränkungen beginnend ab der Adoleszenz zu psychischen Fehlentwicklungen bis hin zu Depressionen komme, eine sichere Prognose sei jedoch derzeit nicht möglich. Zu berücksichtigen ist im Übrigen, dass der Kl. als Integrationskind mit erheblicher Unterstützung die Regelschule besuchen kann und ebenfalls mit fachkundiger Begleitung an Ferienfreizeiten teilnimmt.“

In Würdigung dieser Gesamtsituation halte der Senat das ausgeurteilte Schmerzensgeld für angemessen. Der vom Landgericht als maßgeblich bewertete Gesichtspunkt, dass der Kl. gerade infolge des Erhalts seiner Persönlichkeit die Unterschiede zu gesunden Mitmenschen und sein diesbezügliches „Anderssein“ in der Zukunft möglicherweise verstärkt wahrnimmt, könne nach Auffassung des Senats nicht dazu führen, dass mit Blick hierauf der vollständigen Persönlichkeitszerstörung vergleichbare Schmerzensgeldbeträge zuzusprechen wären: „Hierbei wird nicht verkannt, dass eine wesentliche Ausprägung des immateriellen Schadens auch darin bestehen kann, dass der Verletzte sich seiner Beeinträchtigung bewusst ist und deshalb in besonderem Maße unter ihr leidet. Dieser Gesichtspunkt kann daher für die Bemessung des Schmerzensgeldes durchaus von Bedeutung sein […]. Dies rechtfertigt jedoch ein Schmerzensgeld nicht, das die Höhe erreicht, die bei einer vollständigen Zerstörung der Persönlichkeit zuzusprechen ist. Eine solche Betrachtung lässt den Gesamtschaden in seiner gesamten Ausprägung außer Betracht, orientiert sich letztlich an einem nicht hinreichend objektivierbaren Empfinden des Verletzten und berücksichtigt auch nicht, dass die verbleibenden kognitiven Fähigkeiten es dem Verletzen gerade ermöglichen, in einem bestimmtem Ausmaß ein - wenngleich eingeschränktes - selbstbestimmtes Leben zu führen. Die teilweise erhaltene Fähigkeit, die eigene Person und die eigene Umwelt zu erleben, ist mithin nach Auffassung des Senats zwar ebenfalls dem Grunde nach schmerzensgelderhöhend zu berücksichtigen, wenn sie mit der Fähigkeit einhergeht, die eigenen Einschränkungen in verstärktem Maße wahrzunehmen, in erheblichem Umfang aber erst dann, wenn sich hieraus ein psychisches Leiden mit Krankheitswert entwickelt. Dies ist bei dem Kl. zumindest derzeit nicht der Fall. Der Gefahr, dass er in der Zukunft eine psychische Erkrankung entwickeln wird, die wiederum der Bekl. anzulasten wäre, kann durch einen Feststellungsantrag bezüglich der Zukunftsschäden Rechnung getragen werden. Einen solchen Feststellungsantrag hat das Landgericht in dem angefochtenen Urteil auch - rechtskräftig - zuerkannt.“

OLG Dresden 18.08.2020 – 4 U 1242/18

 

 

 

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31.10.2021

Informationen

OLG Dresden
Urteil/Beschluss vom 18.08.2020
Aktenzeichen: 4 U 1242/18

Vorinstanzen

OLG Dresden
Urteil/Beschluss vom 05.10.2020
Aktenzeichen: 4 U 1725/20

Fachlich verantwortlich

Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

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