Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

Kriterien für Neulandmedizin

 Während die Aufklärungsmaßstäbe bei Anwendung von Neulandmethoden weitgehend geklärt sind (vgl. insbesondere BGH 18.05.2021, VI ZR 401/19; BGH 22.05.2007, VI ZR 35/06), gilt dies nicht in gleicher Weise für die Frage, wann eine Behandlungsmethode als Neuland einzuordnen ist. Das illustriert der folgende Fall besonders eindringlich, bei dem das OLG für eine Bandscheibenprothese die Einordnung als Neuland ablehnt, während der BGH in der vorstehend zuerst genannten Entscheidung eben jenen Prothesentyp als Neulandmethode behandelt hat – freilich revisionsrechtlich an entsprechende Feststellungen des Berufungsgerichts gebunden (a.a.O., Rn. 10), so dass eine abweichende Einordnung der Tatsacheninstanzen sowohl hier möglich blieb (worauf das OLG auch explizit verweist, Rn. 73), als auch weiterhin möglich bleibt.

 

Der Fall:

Die Klägerin verfolgt Schadensersatz nach Implantation einer Bandscheibenprothese des Typs Cadisc-L im Bereich L5/S1 sowie des Typs Cadisc-C im Bereich HWK 5/6. Bei Entwicklung der Prothese Cadisc wurde auf sonst übliche Titanplatten verzichtet; es handelt sich um eine Prothese, die vollständig aus Kunststoff besteht und zwar aus einem weichen Polyurethankern, der von zwei Deckplatten aus Polycarbonat umfangen ist, die ihrerseits mit Calciumphospat beschichtet sind, um das Einwachsen in den Knochen zu fördern.

 

Da Metallimplantate bei bildgebenden Verfahren zu Artefakten führen, versprach man sich von der Prothese Cadisc im Vergleich zu Prothesen mit Titanbestandteilen eine bessere postoperative Bildgebung bei gleichem Leistungsbild im Übrigen. Tatsächlich kam es indessen bereits kurz nach Markteinführung zu ersten Rückrufen von Chargen durch den Hersteller. In der Folgezeit stellte man dann in mehreren Fällen einen Höhenverlust eingebauter Prothesen des Typs Cadisc L fest. Im September 2014 nahm der Hersteller, die Fa. R. Ltd., die Prothese Cadisc L vom Markt, die Cadisc C folgte im Jahre 2015. Der Marktzulassung der Prothese war lediglich ein in-vivo-Versuch mit einigen Pavianen und eine mehrmonatige klinische Prüfung mit nur 29 Patienten in Deutschland, Belgien und den Niederlanden vorausgegangen1, bevor die British Standards Institution als benannte Stelle („notified body“) i.S. der europarechtlichen Regelungen zur Marktzulassung von Medizinprodukten der Prothese am 24. August 2010 die CE-Kennzeichnung zuerkannte.

 

Die Klägerin hat u.a. gerügt, bei der Implantation handele es sich um eine Neulandmethode; über diesen Umstand hätte sie explizit aufgeklärt werden müssen. Der Einwand der hypothetischen Einwilligung greife insoweit nicht, als sie getäuscht worden sei. Beide Eingriffe seien nicht indiziert gewesen, weil die konservativen Behandlungsmaßnahmen nicht ausgeschöpft worden seien.

 

Die Entscheidung des Gerichts:

Das OLG hat die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des Landgerichts zurückgewiesen.

Bei der Anwendung einer noch nicht allgemein anerkannten medizinischen Behandlungsmethode seien zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten zwar erhöhte Anforderungen an dessen Aufklärung zu stellen. Die Prothese Cadisc stelle indes keine Neulandmethode dar. Die konstruktive Besonderheit, dass der viskoelastische Kern keine Deckplatten aus Titan habe, stelle sich vielmehr nur als Varianz eines etablierten Prinzips dar, die mit keiner Gefahrerhöhung verbunden war; jedenfalls hätten Behandler eine weitergehende Gefahr bei Implantation nicht gewärtigen müssen. Dies ergebt sich aus den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen.

Insoweit gelte, dass nicht jedwede Modifikation im Detail, möge sie vorher auch noch nicht in dieser Spezifikation am Markt vertreten gewesen sein, bereits dazu führen müsse, dass die insoweit „neue“ Methode / das insoweit „neue“ Implantat als aufklärungspflichtige Neulandmethode zu qualifizieren wäre, denn dies beschränkte ohne inhaltliche Rechtfertigung die Therapiefreiheit des Arztes:

 

„Entscheidend für die Frage, ob eine Neuerung in diesem Sinne die Schwelle zur Aufklärungspflicht überschreitet, ist, ob der Behandler zu gewärtigen hatte, dass die zu beurteilende Methode im Vergleich zu den etablierten Methoden mit einem abweichenden / unbekannten Risikoprofil verbunden sein würde. […] Wollte man demgegenüber nur darauf abstellen, wie lange die Methode gebräuchlich ist oder ob die Fachkreise sie als ‚neu‘ einordnen, bliebe man an der Oberfläche und könnte eine wissenschaftlich fundierte Abgrenzung nicht vornehmen und auch nicht hinreichend fachlich argumentativ erörtern. Ebenfalls untauglich scheint es dem Senat zur Abgrenzung darauf abzustellen, ob Langzeitstudien zur entsprechenden Methode vorliegen, wie dies die Klägervertreterin in der mündlichen Verhandlung thematisiert hat. Wie der Sachverständige in der Verhandlung vor dem Senat ausgeführt hat, wäre dies völlig lebensfremd; für viele Methoden oder Gegenstände gibt es keine solchen Studien; und die Zeiträume, über die sie laufen müssten, führten dazu, dass Ergebnisse mutmaßlich zumeist erst vorlägen, wenn die Methode gar nicht mehr gebräuchlich wäre.“

 

Die Argumentation der Klägerin bleibe insoweit an der Oberfläche, als sie sich mit der Frage, wann die Modifikation eines etablierten Prinzips als Neulandmethode zu werten sei und wann sie noch als bloße Varianz eines bereits etablierten Prinzips gelten dürfe, nicht weiter beschäftige. Verstehe man indessen den Verzicht auf die Platten als Varianz innerhalb eines Standards (hier Lumbalprothese mit viskoelastischem Kern), sei sie eben deshalb keine Neulandmethode, weil Lumbalprothesen mit viskoelastischem Kern unstrittig eine etablierte Methode darstellten. Das Argument, dass die Prothese Cadisc L sie erst wenige Jahre am Markt sei, bleibe ebenfalls der Oberfläche und könnte nur dann Geltung beanspruchen, wenn jede Varianz - auch wenn sie ex ante aus Sicht der beteiligten Fachkreise mit keiner Veränderung des Risikoprofils verbunden sei, sondern sich in das Risikoprofil der etablierten Methode einfüge - aufklärungspflichtig wäre. Eine solche Grenzziehung sei zwar dogmatisch möglich ist. Indessen könne der Senat unter Berücksichtigung der Therapiefreiheit der Behandler und der berechtigten Sicherheitserwartungen der Patienten wenig Sinn an einer so apodiktischen Abgrenzung unter Ausblendung der Risikoeinschätzung erkennen.

 

Grund dafür, dass die Prothese vom Markt genommen worden sei, seien Fälle von Höhenverlust gewesen. Insoweit sei mit Blick zwar die Ansicht vertreten worden, dass bei der Prothese das Risiko der Dislokation und das Risiko, nicht einzuwachsen, von dem entsprechenden Risiko etablierter Prothesentypen abweiche. Der Sachverständige habe indes ein abweichendes Risiko überzeugend verneint:

 

„Er hat sinngemäß ausgeführt, dass Kunststoffimplantate ebenfalls einwüchsen und sich unter diesem Gesichtspunkt keine neuen Risiken ergäben. Es sei durchaus üblich, dass in der Wirbelsäulenchirurgie beschichtete Kunststoffimplantate ohne weitere Verankerungen eingebracht würden und auch ein Einwachsen nachgewiesen werden könne. Dazu sei anzumerken, dass man früher in der Tat angenommen habe, Plastik könne wegen seiner Materialeigenschaften per se nicht einwachsen. Diese Annahme sei aber überholt. Man gehe heutigen Tags davon aus, dass Plastik schneller von Bakterien besiedelt sein könne, die ihrerseits dann ein knöchernes Verwachsen verhindern. Den verschiedenen OP-Berichten zu Cadisc-Explantationen habe er entnehmen können, dass die Prothesen verwachsen seien; er deute die OP-Berichte, wenn es dort heiße, die Prothese habe herausgefräst werden müssen, dass tatsächlich eine Verwachsung der Deckplatten stattgefunden habe. Als Beispiel für ein gängiges Plastikimplantat ohne zusätzliche Verankerung seien Cages an der Halswirbelsäule zu nennen, deren Oberfläche allenfalls aufgeraut werde. Die Erkenntnis, dass die Oberflächenstruktur für das Einwachsen entscheidend sei und dass das Einwachsen durch eine Beschichtung noch verbessert werden könne, sei uralt. Die Erkenntnis, dass beschichtetes Plastik einwachsen könne, dürfe 10 bis 13 Jahre alt sein. Aus dem Umstand, dass Nachoperateure auch Cadisc-L Prothesen vorgefunden hätten, die nicht eingewachsen gewesen seien, könne insoweit nichts abgeleitet werden. Das sei ein allgemeines Risiko, das für sämtliche Implantate gelte“. Diese Ausführungen gälten für die Prothese Cadisc-C entsprechend.

 

Eine Aufklärungspflicht folge schließlich auch nicht aus dem Umstand, dass die Prothese Cadisc C der Klägerin erst eingesetzt worden sei, als die Fa. MM bereits einen Einbaustopp für die Cadisc L verhängt habe: „Der Sachverständige hat dazu ausgeführt, dass er sich in diesem Fall in seiner Klinik mit seinen Oberärzten besprochen hätte, ob man die Prothese noch weiterverwenden würde; mutmaßlich hätte man das nicht getan. Er hätte allerdings keine Veranlassung gesehen, einen Patienten, dem er eine Cervikal-Prothese hätte einbauen wollen, darauf hinzuweisen, dass die Cadisc C risikobehaftet wäre, weil die L vom Markt genommen war. Es handele sich um völlig unterschiedliche Indikationen und Risikoprofile. Insofern sei die Cervikal-Prothese mit der Lumbal-Prothese überhaupt nicht zu vergleichen. Um eine Analogie zu gebrauchen: Das wäre so, wie wenn ein Chirurg Hüftprothesen eines Herstellers nicht mehr einbaute, weil eine Knieprothese des gleichen Herstellers vom Markt genommen würde.“

 

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05.10.2023

Informationen

OLG Oldenburg
Urteil/Beschluss vom 14.12.2022
Aktenzeichen: 5 U 70/19

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