Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

Produkt- und Instruktionsfehler bei Vaxzevria?

Seit jeher potentiell aufwendig zu bestimmen ist die Einschätzung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses iSv § 84 I 2 Nr. 1 AMG, die – sachverständig beraten – im Indiviudualprozess nicht selten auch zum echten Zeitfaktor wird, der sich bei einer pandemiebedingten Klagewelle potenziert multipliziert. Umso naheliegender, die Frage nicht mehr individualprozessual, sondern arzneimittelzulassungsrechtlich anzugehen, wie das OLG Koblenz dies im folgenden Fall getan hat. Die (umfangreiche, mit einer großen Zahl an Rspr.- und Lit.-Nachweisen versehene) Entscheidung nimmt zudem einen generalisierenden Blick auch auf die Frage des Instruktionsfehlers nach § 84 I 2 Nr. 2 AMG ein.

 

Der Fall:


Der Impfstoff Vaxzevria – landläufiger bekannt als „Astra Zeneca“ – erhielt am 29.1.2021 eine EU-weite Zulassung für Personen über 18 J.; die im Streitfall relevante Charge wurde am 17.2.2021 in Verkehr gebracht. Anschließend wurden thromboembolische Ereignisse nach Impfung mit Vaxzevria bekannt. Die Kl., eine angestellte Zahnärztin, erhielt am 5.3.2021 – zu dieser Zeit bestand keine freie Impfstoff-Wahl – eine Impfung und klagte bereits am 8.3.2021 über einen Hörverlust rechts mit Tinnitus. Eine Heilung ist seither nicht mehr zu erwarten.
Am 18.3.2021 teilte die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) mit, dass der Nutzen dennoch die bekannt gewordenen Nebenwirkungen überwiege. Mit ihrer Genehmigung wurde die Fachinformation für Vaxzevria am 19.3.2021 um einen entsprechenden Hinweis ergänzt. Vaxzevria erhielt im Januar 2022 eine Verlängerungsempfehlung EMA und im Oktober 2022 eine unbedingte Zulassung, bevor sie auf Veranlassung des Herstellers im März 2024 schließlich widerrufen wurde.
Gegen die auf § 84 I 2 Nr. 1 und 2 AMG gestützte Klage wendet die Bekl. ein, dass der Hörverlust ausweislich der vorgelegten Behandlungsberichte aus unbekannter Ursache eingetreten sei. Was § 84 I 2 Nr. 2 AMG betreffe, habe die Kl. jedenfalls die Ursächlichkeit einer etwaig unzulänglichen Fachinformation für ihre Impfentscheidung nicht dargelegt.

 

Die Entscheidung des Gerichts:


Das OLG hat das klageabweisende Urteil des LG bestätigt.


1. Was zunächst eine Haftung der Bekl. aus § 84 I 2 Nr. 1 AMG betreffe, so habe die hierfür maßgebliche Risiko-Nutzen-Abwägung abstrakt-generellen Charakter und finde unter Berücksichtigung sämtlicher schädlichen Wirkungen für die vollständige durch die Indikationsangabe des pharmazeutischen Unternehmers anvisierte Patientengruppe statt; sie werde nicht bezogen auf den individuell Geschädigten oder Untergruppen innerhalb der durch die Indikation angesprochenen Patientengruppe vorgenommen. Allerdings treffe § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG keine Aussage über den Zeitpunkt, auf den die Nutzen-Risiko-Abwägung zu beziehen ist:
a) Insoweit stelle die Rspr. für den Haftungsprozess auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab, wobei teilweise der Erkenntnisstand zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Impfstoffs zurückprojiziert werde. Zur Begründung hierfür werde angeführt, dass als gefährlich erkannte Arzneimittel sonst weiter vertrieben werden könnten bzw. dass andernfalls eine Verschuldens- und keine Gefährdungshaftung vorläge, was vom Gesetzgeber nicht gewollt gewesen sei. Dem folge die Literatur, sei der neueste Erkenntnisstand insofern auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens zurückzuprojizieren, als gefragt werden müsse, ob bei den nunmehr bestehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen, wenn sie damals bereits bekannt gewesen wären, ein Inverkehrbringen des Arzneimittels unter Berücksichtigung des sonstigen damaligen Arzneimittelangebots bzw. der damals zur Verfügung stehenden Behandlungsalternativen hätte in Kauf genommen werden müssen. Zu prüfen sei also, ob das Arzneimittel angesichts der nunmehr vorliegenden Erkenntnisse hätte zugelassen werden dürfen. Wenn es demgegenüber bereits seinerzeit Alternativen mit gleichem therapeutischem Nutzen, indes mit geringeren schädlichen Wirkungen gegeben habe, sei das zu beurteilende Arzneimittel fehlerhaft.
b) Dem folgend, sei das Nutzen-Risiko-Verhältnis für den Impfstoff der Bekl. ausgehend von den Erkenntnissen im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zu beiden in Frage kommenden Zeitpunkten – Inverkehrbringen und Anwendung – als positiv zu bewerten, wobei sich das OLG zu eigenen Feststellungen indes nicht veranlasst bzw. hieran sogar (unionsrechtlich) aufgrund der bis zum 7.5.2024 bestehenden Tatbestandswirkung des Durchführungsbeschlusses der Europäischen Kommission vom 31.10.2022 zur unbedingten Zulassung des Impfstoffs gehindert sieht:
„Im Unionsrecht gilt der Grundsatz der Vermutung der Rechtmäßigkeit von Gemeinschaftsakten. Dieser Grundsatz besagt, dass die Rechtsakte einer europäischen Behörde – hier der Europäischen Kommission – Rechtswirkungen entfalten, solange sie nicht zurückgenommen, im Rahmen einer Nichtigkeitsklage für nichtig erklärt oder infolge eines Vorabentscheidungsersuchens oder einer Rechtswidrigkeitseinrede für ungültig erklärt worden sind“. Mit der Feststellung der rechtswirksamen Zulassung werde aber wird inzident das Vorliegen eines positiven Nutzen-Risiko-Verhältnisses festgestellt, da ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis Tatbestandsvoraussetzung der Zulassung eines Arzneimittels ist, gleichgültig, ob auf nationaler oder europäischer Ebene. Sei die Prüfung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses mithin aber wesentliche Voraussetzung sowohl für die bedingte Zulassung des Impfstoffs als auch für die Erteilung der unbedingten Zulassung gewesen, sei mit der Zulassungsentscheidung zugleich das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis mit Bindungswirkung auch für die Zivilgerichte festgestellt worden.


2. Auch der Haftungstatbestand des § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AMG sei nicht erfüllt.
a) Auch hier sei streitig, auf welchen Zeitpunkt abzustellen sei. Der Senat brauche dies indes nicht zu entscheiden, da weder die Fach- noch die Gebrauchsinformation zu auch nur einem der beiden Zeitpunkte fehlerhaft gewesen sei:
„Die bis zum 18.3.2021 fehlenden Hinweise auf das Risiko eines Hörverlusts oder jedenfalls eines thromboembolischen Ereignisses führen indessen nicht zu einer Haftung nach § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AMG. Die Produktinformation war nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse weder zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens nach dem 29.1.2021 (Tag der bedingten Zulassung) noch am 05.03.2021 (Impfung) fehlerhaft. In diesem Zusammenhang muss berücksichtigt werden, dass nicht jede entfernte Möglichkeit eventueller Nebenwirkungen in die Produktinformation aufgenommen werden muss. Nach § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AMG sind „die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft“ der Maßstab dessen, was der pharmazeutische Unternehmer an Informationen in die Informationsträger (Kennzeichnung, Gebrauchs- und Fachinformation) aufzunehmen hat.“ Ein auf wissenschaftlichen Daten beruhender fundierter und ernst zu nehmender Verdacht auf die Möglichkeit des Eintritts thromboembolischer Ereignisse nach einer Impfung mit Vaxzevria, der eine Fehlerhaftigkeit der Fach- und Gebrauchsinformation begründen könnte, habe hier aber zum spätest möglichen Zeitpunkt der Impfung der Kl. am 5.3.2021 (noch) nicht bestanden. Aber auch selbst unter Heranziehung des Datums des 17.2.2021 als Tag des Inverkehrbringens könne eine Verzögerung bei der Aktualisierung der Produktinformation nicht festgestellt werden. Acht Tage (erste Meldung 9.2. bis 17.2., potentielles Inverkehrbringen) respektive 13 Tage (21.2. = erste Meldung nach Inverkehrbringen, bis 05.3. Impfung) seien für eine wissenschaftliche Überprüfung von Verdachtsmeldungen und eine darauf basierende, mit zutreffenden Informationen versehene Aktualisierung der Produktinformationen ersichtlich zu wenig.
b) Unbeschadet dessen scheide aber auch der Ursachenzusammenhang zwischen einer fehlerhaften Fach- oder Gebrauchsinformation und dem Hörverlust der Kl. aus, weil die Kl. die Kausalität des von ihr behaupteten Informationsfehlers nicht schlüssig dargelegt habe.
aa) Insoweit sei entscheidend, dass der behandelnde Arzt durch die fehlerhafte Fachinformation dazu verleitet werde, dem Patienten das Präparat zu empfehlen oder in der schadensursächlichen Weise zu verabreichen. Es komme also darauf an, dass der Arzt bei zutreffender Fachinformation anders gehandelt hätte oder zumindest die Anwendung dieses Medikaments kritisch überdacht hätte. Dies sei nicht ersichtlich.
bb) Darüber hinaus habe die Kl. aber auch nicht einmal plausibel dargelegt, dass sie sich bei unterstellt fehlerfreier und umfassender Gebrauchsinformation nicht hätte impfen lassen: „Das Landgericht hat dazu ausführt, die Kl. scheine verantwortungsbewusst zu sein und überlegt zu handeln; sie sei vor der Impfung kerngesund und uneingeschränkt belastbar gewesen und habe vor dem Impftermin sogar bei ihrem Hausarzt durch eine Blutentnahme überprüfen lassen, dass sie nicht schon vorher eine Corona-Infektion gehabt habe. Ihre drei Kinder habe sie ohne Betäubungsmittel zur Welt gebracht. Außerdem habe sie angegeben, eine Fürsorgepflicht gegenüber ihrer Familie, ihren Patienten (die Kl. arbeitete als Zahnärztin) und der Gesellschaft gehabt zu haben. Das Landgericht hat weiter festgestellt, dass der Impfstoff damals nicht frei wählbar gewesen sei, so dass es für die Kl. am 5.3.2021 nur die Alternativen gegeben habe, sich mit dem Impfstoff der Bekl. impfen zu lassen oder auf die Impfung zu verzichten. Die Kammer sei aber überzeugt, dass die Kl. sich im damaligen Zeitpunkt auch bei Kenntnis der Möglichkeit thromboembolischer Ereignisse und/oder eines Hörverlusts für die Impfung und damit gegen die hohen gesundheitlichen Risiken bei einer hochansteckenden Krankheit entschieden hätte.“
Gegen diese auch nach eigener Prüfung durch den Senat überzeugende tatrichterliche Würdigung habe die Kl. mit ihrer Berufungsbegründung keine konkreten Anhaltspunkte vorgebracht, die Zweifel an der Vollständigkeit oder Richtigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen begründen könnten.

 

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Informationen

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Aktenzeichen: 1 U 34/23

Fachlich verantwortlich

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