Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe
2. Postnataler Hinweis auf zeitnahen Kontrolltermin
Betrifft die Sicherungsaufklärung statt wiederauftretende Beschwerden die Verhinderung einer Erkrankung im Sinne regelmäßiger Kontrolltermine, fehlen dem Patienten – bzw. wie im folgenden Fall seinen gesetzlichen Vertretern – physische Begleit- und ggf. Warnsignale, was zumeist einen umso stärkeren Akzent in der Vermittlung des erforderlichen Gefahrenbewusstseins fordert. Dicht am Befunderhebungsfehler, stellt sich in der vorliegenden Konstellation zudem die Frage einer Anwendbarkeit von § 630h V 2 BGB bereits auf den vorgelagerten Bereich der Sicherungsaufklärung.
Der Fall:
Der Kl. wird in der 25. SSW in der Klinik der Bekl. geboren, wo er regelmäßigen augenärztlichen Kontrollen unterzogen wird, zuletzt am 18.10.2016 mit der Empfehlung einer Nachuntersuchung in drei Monaten. Bereits am 24.11.2016 wird eine Netzhauterkrankung bei ihm diagnostiziert, die zu seiner vollständigen Erblindung führt.
Mit seiner Klage rügt er, dass am 18.10.2016 eine Pupillenweitstellung ausweislich der fehlenden Dokumentation unterblieben sei und die Empfehlung einer Nachuntersuchung erst drei Monate später zu lang und seinen Eltern gegenüber zudem nicht eindringlich genug gewesen sei. Bei einer Untersuchung am eigentlichen Geburtstermin – dem 8.11.2016 – hätte sich ein reaktionspflichtiger Befund mit guten Behandlungschancen gezeigt, die ihm genommen worden seien.
Das LG weist die Klage ab, da die Untersuchungsempfehlung jedenfalls nicht grob fehlerhaft gewesen sei und die Beweislastumkehr nach § 630h V 2 BGB auf die Sicherungsaufklärung nicht anwendbar sei.
Die Entscheidung des Gerichts:
Das OLG weist zunächst darauf hin, dass sich die Abgrenzung zwischen unterlassener Befunderhebung und einem Unterlassen von Warnhinweisen zur Sicherstellung des Behandlungserfolges daran zu orientieren habe, wo der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit des ärztlichen Fehlverhaltens liege. In der vorliegenden Gestaltung sei der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit bei in der unterbliebenen Sicherungsaufklärung zu verorten: „Wird ein Patient zutreffend über das Vorliegen eines kontrollbedürftigen Befundes und die medizinisch gebotenen Maßnahmen einer weiteren Kontrolle informiert und unterbleibt (lediglich) der Hinweis auf die Dringlichkeit der gebotenen Maßnahmen, so liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit regelmäßig in dem Unterlassen der Warnhinweise […]. Fehlt es dagegen schon an dem Hinweis, dass ein kontrollbedürftiger Befund vorliegt und dass Maßnahmen zur weiteren Abklärung medizinisch geboten sind, liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit regelmäßig in der unterbliebenen Befunderhebung“.
Wie das LG unter zutreffender Anwendung dieser Vorgaben herausgearbeitet habe, habe die Bekl. die Eltern des Kl. zutreffend auf die erforderliche augenärztliche Kontrolluntersuchung hingewiesen: „Sie hat dabei eine Dringlichkeitsstufe von ‚3 Monaten‘ benannt, was nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen nicht richtig war. Fehlerfrei wäre eine (höhere) Dringlichkeit von ‚3 Wochen‘ bzw. ‚zum errechneten Geburtstermin‘ gewesen. Damit liegt der Schwerpunkt des Beklagtenfehlers in der Angabe einer zu geringen Dringlichkeit, mithin im Bereich der Sicherungsaufklärung.“
Nachdem der Sachverständige diesen Fehler nachvollziehbar nicht als grob bewertet habe, sei dem Kl. indes der Beweis der Kausalität dieses Fehlers im Rahmen der Sicherungsaufklärung nicht gelungen. Die Kausalität werde aber analog § 630h V 2 BGB vermutet, da nicht einzusehen sei, weshalb die Regelung nicht auf die hier gegebene Konstellation anwendbar sein solle:
„Ergibt die o.g. Einordnung des Versäumnisses, dass es sich im Schwerpunkt um eine fehlerhafte Aufklärung handelt, bedeutet dies nicht, dass damit die Prüfung beendet und eine Haftung zu verneinen wäre. Im Falle einer fehlerhaften therapeutischen Aufklärung hat die Patientenseite vielmehr darzulegen, wie sie auf die Aufklärung reagiert hätte, wobei zu ihren Gunsten die Vermutung aufklärungsgerechten Verhaltens streitet. Sodann hat sie darzulegen und zu beweisen, dass die dadurch veranlasste Behandlung den Schaden, der tat- sächlich eingetreten ist, vermieden hätte. Dies bedeutet für Fälle der vorliegenden Art, dass sie beweisen muss, dass es zu einer Befunderhebung gekommen wäre, dass sich ein reaktionspflichtiger Befund ergeben hätte und dass bei Reaktion auf diesen Befund der Schaden vermieden worden wäre.
Die herrschende Meinung in Rezeption der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes scheint nun zu sein, dass jene für die fehlerhafte Befunderhebung anerkannte Beweiserleichterung zu Gunsten der Patientenseite (§ 630h Abs. 5 S. 2 BGB), dass nämlich mit Blick auf den Befund nur die überwiegende Wahrscheinlichkeit nachzuweisen ist und die Kausalität der unterbliebenen Reaktion auf den Befund vermutet wird, soweit sich ein Unterlassen als grober Behandlungsfehler darstellt, nicht zu Gunsten der Patientenseite greift, wenn die Haftung im Ur-sprung an eine therapeutische Aufklärung anknüpft und die vorstehenden Erwägungen zur Befunderhebung nicht primär haftungsbegründend sind, sondern im Rahmen der Prüfung der (haftungsbegründenden) Kausalität (der Sicherungsaufklärung) angestellt werden“.
Dies überzeuge ohne weiteres nicht: „Vordergründig ließe sich argumentieren, dass § 630h Abs. 5 S. 2 BGB an einen Befunderhebungsfehler und nicht an eine therapeutische Aufklärung bzw. eine fiktive Befunderhebung anknüpft. Dem kann indessen zweierlei entgegengehalten werden. Zum
einen dürfte Konsens sein, dass der Gesetzgeber mit Kodifizierung des Behandlungsvertrages lediglich die in der Rechtsprechung anerkannten Prinzipien hat kodifizieren aber nicht beschränken wollen. Insoweit taugt mithin eine Argumentation mit dem Gesetzeswortlaut wenig, um eine Restriktion, die dogmatisch-teleologisch nicht plausibel begründbar ist, zu legitimieren. Zum anderen knüpft § 630h Abs. 5 S. 2 BGB an den Vorwurf eines Unterlassens an; regelmäßig besteht der Vorwurf darin, eine Befunderhebung nicht vorgenommen zu haben“.
So gesehen sei in beiden Konstellationen die geschuldete Befunderhebung „fiktiv“. Indessen könne das OLG keinen plausiblen Grund erkennen, warum sich die beweisrechtliche Situation des Patienten, der den Beweis aufklärungsgerechten Verhaltens führen könne, erheblich verschlechtern solle, wenn den Behandlern nicht vorzuwerfen sei, die geschuldete Untersuchung nicht durchgeführt zu haben, sondern die geschuldete Untersuchung durch falsche Angaben vereitelt zu haben:
„Im Gegenteil erschiene eine entsprechende Ungleichbehandlung dem Senat nachgerade willkürlich. Die vorliegend zu beurteilende Konstellation unterscheidet sich auch maßgeblich von jener, in der Diagnose- und Befunderhebungsfehler gegeneinander abzugrenzen sind, denn mit der Einordnung als Diagnose- oder Befunderhebungsfehler ist tatsächlich die Zuweisung unter- schiedlicher Haftungsstandards verbunden. So haftet der Behandler bekanntermaßen nicht für jedwede falsche, sondern nur für die unvertretbare falsche Diagnose; eine vertretbar falsche Diagnose „sperrt“ regelmäßig insoweit den Vorwurf unterbliebener Befunderhebung […]. Um Inkonsistenzen wegen der unterschiedlichen Haftungsmaßstäbe zu vermeiden, ist es in dieser Situation (Abgrenzung Diagnose- vom Befunderhebungsfehler) ersichtlich erforderlich, mit der Einordnung in die eine Fehlerkategorie in der Folge auch Konsequenzen für die Beurteilung zeitlich nachfolgender Behandlungsschritte zu verbinden. Dieses Argument gilt für die vorliegend zu beurteilende Situation indessen gerade nicht, weil es sich bei der therapeutischen Aufklärung und der Befunderhebung, sofern sie jeweils vorwerfbar standardunterschreitend erfolgen, um Behandlungsfehler handelt, die dem gleichen haftungsrechtlichen Regime unterstellt sind“. Hieran gemessen, lägen die Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr angesichts der anzunehmenden früheren Vorstellung des Kl. zu einem Kontrolltermin durch seine Eltern vor.
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