Er ist Dreh- und Angelpunkt jedes Arzthaftungspro-zesses: vor allem bei Behandlungsfehlern, nicht selten aber auch bei Aufklärungsfehlern, ist der medizinische Standard sorgfältig zu bestimmen, bevor Aussagen zu einer Abweichung hiervon und auf dieser Grundlage einer Haftung des Behandlers getroffen werden können.
Nach ständiger Rechtsprechung des VI. Zivilsenats des BGH gibt der Standard Auskunft darüber, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs zum Zeitpunkt der Behandlung vorausgesetzt und erwartet werden kann. Er repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat (vgl. BGH 23.02.2021, VI ZR 44/20 Rn. 13).
Der Standard wird nach dieser Rechtsprechung also behandlungsgebunden begriffen (maßgeblich ist das Fachgebiet, in dem der Arzt tätig geworden ist, nicht in dem er hätte tätig werden müssen), als inhaltlich flexibel (zum Zeitpunkt der konkreten Behandlung), als stets doppelt fundiert (naturwissenschaftliche Erkenntnis und ärztliche Erfahrung) und als evidenzbasiert (grds. nur in der Erprobung bewährte Methoden).
Leitlinien, Richtlinien und andere ausdrückliche Handlungsanweisungen sind als Regelwerke, in die
gesicherte medizinische Erkenntnisse Eingang finden, hierbei heranzuziehen, aber nicht unbesehen mit dem Standard gleichzusetzen und kein Ersatz für ein Sachverständigengutachten:
„Entgegen der Auffassung der Revision fassen Leitlinien nicht nur das zusammen, was bereits zuvor medizinischer Standard war. Handlungsanweisungen in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände dürfen nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden. Dies gilt in besonderem Maße für Leitlinien, die erst nach der zu beurteilenden medizinischen Behandlung veröffentlicht worden sind. Leitlinien ersetzen kein Sachverständigengutachten. Zwar können sie im Einzelfall den medizinischen Standard für den Zeitpunkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben; sie können aber auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veralten“ (BGH 15.04.2014, VI ZR 382/12 Rbn. 17).
Den Standard auf diese Weise sachverständig beraten zu ermitteln und andererseits, auch in Grenzbereichen, wertend nachzuvollziehen, ist für hiermit befasste Spruchkörper immer wieder eine zentrale sachliche Herausforderung in der Beweisaufnahme und -würdigung.
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Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe
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