Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe
3. Pränataler Hinweis auf drohende Behinderung
Wie der folgende Fall zeigt, sind auch Hinweise in der pränatalen Diagnostik rechtlich als Fälle der Sicherungsaufklärung zu behandeln, die allerdings im Hinblick auf die Beweisführung mit einer gesonderten Prüfung eine hypothetischen Abbruchsentscheidung einschließlich ihrer rechtlichen Umsetzbarkeit eihergehen.
Der Fall:
Die Kl. verlangt Schadensersatz aus eigenem Recht wegen einer fehlerhaften Beratung über eine pränatal ersichtliche Behinderung ihrer am sog. Aicardi-Syndrom erkrankten Tochter.
Nach Geburt einer gesunden Tochter 2005 ließ die Kl. eine weitere Schwangerschaft 2010, bei der das sog. Turner-Syndrom festgestellt wurde, abtreiben. Unter Verweis u.a. hierauf bringt die Kl. vor, dass sie bei einem auch nur 1 %igen Risiko einer Behinderung abgetrieben hätte. Insoweit habe der Bekl. zu 1) ihr pflichtwidrig nicht den MTR-Befund einer schweren Hirnfehlbildung mitgeteilt. Infolge der Behinderung ihrer Tochter und der hiermit verbundenen Pflege leide sie an
einer tiefgreifenden Depression mit Erschöpfungssyndrom.
Nachdem das LG die Klage abweist, gibt das OLG ihr statt. Der Bekl. zu 1) habe jedenfalls nicht realistisch auf das Risiko einer schweren Behinderung hingewiesen. Diese Pflichtverletzung sei angesichts der plausiblen Äußerung der Kl., bei einem auch nur 1 %igen Risiko abgetrieben zu haben, auch für den unterbliebenen Schwangerschaftsabbruch ursächlich geworden. Angesichts einer ex ante zu erwartenden depressiven Anpassungsstörung sei der Entschluss hierzu auch umsetzbar gewesen.
Die Entscheidung des Gerichts:
Der BGH hat die Annahme einer fehlerhaften pränatalen Beratung bestätigt, deren Kausalität für eine Abtreibungsentscheidung jedoch beanstandet:
„Das Berufungsgericht ist zunächst davon ausgegangen, es erscheine wenig naheliegend, dass eine Schwangere sich angesichts der deutlich überwiegenden Wahrscheinlichkeit, ein gesundes Kind zu bekommen, für die Tötung eines bereits überlebensfähigen Fötus entschieden hätte. […] Das Berufungsgericht hat seine Auffassung, dass die Klägerin sich trotz dieses nicht besonders hohen Risikos zur Tötung des lebensfähigen Fötus entschieden hätte, dann entscheidend damit begründet, dass die Klägerin glaubhaft gemacht habe, sie hätte bereits bei einer auch nur einprozentigen Gefahr einer Behinderung eine Abtreibung vorgenommen. […] Dieser Argumentation des Berufungsgerichts liegt letztlich ein ‚Erst-Recht- Schluss‘ zugrunde: Wenn die Klägerin grundsätzlich bereits bei dem Risiko leichterer Beeinträchtigungen zur Abtreibung bereit gewesen ist, hätte sie hier trotz der weit fortgeschrittenen Schwangerschaft bei einer realistischen Aufklärung über das Risiko einer schwereren Behinderung den lebensfähigen Fötus abgetrieben. Dies steht aber in Widerspruch dazu, dass das Berufungsgericht im Rahmen seiner Ausführungen zur Pflichtverletzung lediglich davon ausgegangen ist, dass durch den Beklagten zu 2) und den Zeugen Dr. X eine realistische Aufklärung über das Risiko einer schweren Behinderung unterblieben ist, nicht dagegen, dass eine Aufklärung auch im Übrigen nicht erfolgt ist. […] Warum sich die Klägerin aber nicht bereits auf der ihr unterhalb dieser ‚Schwelle‘ vermittelten Informationsgrundlage, wenn sie denn - so das Berufungsgericht - schon bei der Gefahr leichterer Beeinträchtigungen zur Abtreibung bereit war, damals zum Abbruch entschieden hat, führt das Berufungsgericht nicht aus und erschließt sich auch nicht. Insoweit entfällt aber die Grundlage für den o.a. ‚Erst-Recht-Schluss‘“.
Die Feststellungen des Berufungsgerichts trügen zudem aber auch nicht die Annahme, dass ein gefasster Abtreibungsentschluss umsetzbar gewesen sei. Nach geltendem Verfassungsrecht müssten Belastungen zu befürchten sein, die ein solches Maß an Aufopferung eigener Lebenswerte verlangen, dass dies von der Frau nicht erwartet werden könne. Bei Fallgestaltungen wie der vorliegenden sei zu prüfen, ob sich für die Mutter aus der Geburt des schwerbehinderten Kindes und der hieraus resultierenden besonderen Lebenssituation Belastungen ergäben, die sie in ihrer Konstitution überforderten und die Gefahr einer schwerwiegen- den Beeinträchtigung ihres insbesondere seelischen Gesundheitszustandes als so drohend erscheinen ließen, dass bei der gebotenen Güterabwägung das Lebensrecht des Ungeborenen dahinter zurückzutreten habe. Hierzu bedürfe es einer auf den Zeitpunkt des denkbaren Abbruchs der Schwangerschaft bezogenen Prognose.
Dies lasse sich mit der Begründung des Berufungsgerichts nicht bejahen: „Die Grundlage für die Prüfung, ob die Gefahr so drohend ist, dass das Lebensrecht des Ungeborenen ausnahmsweise zurückzutreten hat, wird verkürzt, wenn nur darauf abgestellt wird, ob eine Gefahr für den Fall besteht, dass ein Kind behindert zur Welt kommt. Vielmehr ist in einem Fall, in dem zum maßgeblichen Zeitpunkt die Behinderung nicht feststeht, bei der Gefahrbewertung die Höhe des Risikos
einer Behinderung mit einzustellen. Ob eine Gefahr im Sinn des § 218a Abs. 2 StGB besteht, hängt mithin auch davon ab, wie wahrscheinlich die Geburt eines behinderten Kindes ist. Es geht insoweit um eine Indikationsfeststellung unter zweifacher Unsicherheit: Die unklare Diagnose der kindlichen Schädigung verdoppelt gewissermaßen die Unsicherheit der Gefahrprognose für die Mutter nach einer Geburt eines möglicherweise geschädigten Kindes“.
Ab welcher Wahrscheinlichkeit ein Abbruch indiziert sei, d.h. eine ausreichende Gefahr vorliege, ist sicherlich nicht statistisch exakt bestimmbar. Je schwerwiegender der zu befürchtende Schaden sei, desto niedriger könne die Wahrscheinlichkeit sein; bei Lebensgefahr genüge ein relativ geringes Risiko. Bei der oben angeführten Prüfung könne aber auch der fortgeschrittene Zustand der Schwangerschaft nicht ausgeblendet werden: „Auch wenn das Lebensrecht des Kindes dem Grunde nach eine zeitliche Differenzierung der Schutzpflicht nicht zulässt […], sind bei der Abwägung zur Bestimmung der Voraussetzungen der medizinischen Indikation auch die Dauer der Schwangerschaft und die daraus resultierende besondere Situation für Mutter und Kind in den Blick zu nehmen […]. Dies gilt im verfassungsrechtlichen Rahmen (s.o.) insbesondere, wenn es sich - wie hier - um ein lebensfähiges Kind einige Wochen vor der Geburt handelt […]. Die Revision verweist insoweit auch zu Recht auf das Gutachten des neonatologischen Sachverständigen Prof. Dr. S. Dieser - u.a. Vorsitzender der am Universitätsklinikum H. eingerichteten ‚Perinatalen Ethikkommission‘ - hat in seinem Gutachten […] unter Hinweis auf die (soweit damals erkennbar) ‚vergleichsweise günstige‘ Gefahrenprognose einer etwaigen Behinderung ausgeführt, dass die Kommission einem solchen Spätabbruch ‚mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zugestimmt hätte“.
Sollte das Berufungsgericht die Kausalität der fest- gestellten Beratungspflichtverletzung erneut bejahen, habe es daher auch erneut zu prüfen, ob zum maßgeblichen Zeitpunkt eine ausreichende Gefahr für die Klägerin bestand, die es angezeigt hätte erscheinen lassen, einen Abbruch vorzunehmen:
„Soweit diese Gefahr aus den befürchteten Belastungen nach der Geburt eines behinderten Kindes resultiert, wird dabei zu beachten sein, dass die Beklagten nur eine Aufklärung nach Maßgabe des damaligen fachärztlichen Erkenntnisstandes schuldeten. Soweit es bei der Prognose etwaiger zu erwartender gesundheitlicher Beeinträchtigungen der Klägerin - sei es zur Bestätigung, sei es zur Kontrolle der hypothetischen Prognose - naheliegt, den tatsächlich nach der Geburt eingetretenen Zustand mit ins Auge zu nehmen […], wird zu berücksichtigen sein, dass das nach der Geburt festgestellte Aicardi-Syndrom, das wesentlich zur Behinderung des Kindes beigetragen hat, nach den getroffenen Feststellungen für die Beklagten damals nicht diagnostizierbar war“.
Das Berufungsgericht werde weiter Gelegenheit haben, sich mit der Beanstandung der Revision zu befassen, es sei nicht festgestellt, dass die bei pflichtgemäßer Beratung zu prognostizierenden psychischen Beeinträchtigungen der Klägerin ausreichendes Gewicht hätten:
„Eingangs seiner diesbezüglichen Ausführungen beschreibt das Berufungsgericht diese lediglich als ‚schwerwiegende Beeinträchtigung des seelischen Zustands in Form einer depressiven Anpassungsstörung‘. Soweit das Berufungsgericht ausführt, der Sachverständige habe klar herausgestellt, dass die zu prognostizierenden Schädigungen über häufiger zu beobachtende depressive Episoden oder die natürliche mütterliche Fürsorge und Empathie deutlich hinausgegangen wären, hat es ebenfalls keine weitergehende Einordnung und Gewichtung vorgenommen.“ Die weiteren Ausführungen des Berufungsgerichts stellten im Wesentlichen eine Beschreibung von Wahrnehmungs- und Gefühlszuständen der Klägerin dar und bewerteten diese pauschal, ohne die Auswirkungen im Sinne einer medizinischen Symptomatik einzuordnen.
Mehr aus diesem Rechtsgebiet lesen
Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe
Unten finden Sie eine Auswahl von Fortbildungen zum Rechtsgebiet Medizinrecht.
Alle Onlineseminare zu Medizinrecht finden Sie hier
Aktuelle Entwicklungen und Rechtsprechung
Fragen und Antworten